Initiativen in Yarmouk, Ansprüche der neuen Medien, Aleppo: Verbrechen der Islamisten erzürnt SyrerInnen – Netzschau 12. Juni

Bei den lokalen Initiativen tut sich weiterhin einiges. Die Gruppe Bassmeh („Fingerabdruck“) arbeitet im Damaszener Viertel Camp Yarmouk, das vorrangig von Palästinensern bewohnt wird. Aktuell wird Straßenbeleuchtung montiert; eine Apotheke (Fotos und Video) verteilt Medikamente. In Syrien sind Medikamente oftmals knapp und teuer geworden. Die Medikamente werden von Bassmeh kostenlos & nach Möglichkeit nur nach […]

Bei den lokalen Initiativen tut sich weiterhin einiges. Die Gruppe Bassmeh („Fingerabdruck“) arbeitet im Damaszener Viertel Camp Yarmouk, das vorrangig von Palästinensern bewohnt wird. Aktuell wird Straßenbeleuchtung montiert; eine Apotheke (Fotos und Video) verteilt Medikamente. In Syrien sind Medikamente oftmals knapp und teuer geworden. Die Medikamente werden von Bassmeh kostenlos & nach Möglichkeit nur nach ärztlichem Rezept vergeben. Wie überall in Syrien mangelt es durchaus an einigem, v.a. Medikamenten für Kinder, Bluthochdruck, Diabetes sowie Herzkrankheiten – die in Syrien aber häufig benötigt werden. Bassmeh ist auch aktiv in der Kinderbetreuung. Derzeit findet eine Sommerbetreuung für 6- bis 12-jährige Kinder in Yarmouk statt. Auf dem Stundenplan: morgens Unterricht in Grundfächern, nachmittags Zerstreuung beim Malen, Musik und anderen Aktivitäten. Bei den Kindern scheint die Betreuung gut anzukommen. In Aleppo ist für Mädchen eine Sommerschule entstanden, die intensiv auf Abschlussprüfungen vorbereitet. Die Initiative ist getragen von Nabd und Soriyat for Humanity Development.

Die Kinder- und Jugendgruppen von Bassmeh beteiligen sich auch an der humanitären Arbeit: sie packen u.a. Essenskörbe, die dann in der Nachbarschaft von Yarmouk verteilt werden. Wie Homegardening in Syrien aussehen kann, zeigt dieses Beipiel aus Homs. Da viele Viertel umlagert sind, muss man die “glückliche Farm” (arab. für das beliebte Onlinespiel Farmville) eben im Innenhof abhalten.

Die Gruppe „Flüchtlinge, keine Ehefrauen“ (Lajiaat, la sabayaa) setzt sich aktiv gegen die Ausbeutung von Frauen und Mädchen im Exil ein. Die AktivistInnen protestieren v.a. gegen die gewerbsmäßige Verheiratung junger syrischer Mädchen, die oftmals aus Flüchtlingscamps gegen geringe Beträge an reiche Araber geradezu verkauft werden. Die Gruppe hat nun im Internet ein Kontaktformular für ähnliche Initiativen eingerichtet, wo Outline und Aktivitäten dargelegt werden können Eine Projekt-Datenbank soll entstehen, die Vernetzung und Austausch ermöglicht – damit die Situation der Frauen möglichst effektiv verbessert werden kann.

Der Mediensektor ist ein weiterer Bereich, in dem AktivistInnen den Staat herausfordern oder bereits abgelöst haben. Seit 2011 sind unzählige Projekte und Veröffentlichungen entstanden; sei es Film, Print oder Radio. Die Seite “Syrian Media”  (arabisch) bietet eine Übersicht der neuen Medien für Syrer in In- und Ausland. Syria Untold berichtet über das Radioprojekt SouriaLi (“Mein (surreales) Syrien”), das seit Herbst 2012 über Internet alle syrischen Gruppen ansprechen möchte. Es soll gerade ums Zuhören und den Dialog gehen; das Themenspektrum ist breit gefächert. Der Großteil des Teams ist noch in Syrien. Im April 2013 erschien zum ersten Mal die monatlich geplante Zeitung Banat al-balad (“Frauen des Landes”). Die Rolle der Frau in Revolution und Gesellschaft wird dargestellt, Interviews und Artikel zu wichtigen AkteurInnen sind Bestandteil des Magazins. Interessierte können auch selbst Beiträge einsenden. Das nicht rein weibliche Team von Banat al-Balad möchte in der syrischen Revolution auch einen Paradigmenwechsel zu Gunsten der Frauen in der Gesellschaft erreichen. Die Mai-Ausgabe musste allerdings verschoben werden: Internetausfall und die schwierige Sicherheitslage boykottierten die rechtzeitige Fertigstellung.

Der Österreichische Journalistenclub erinnert an den syrischen Menschenrechtler Mazen Darwish, der am 10. Juni den Bruno-Kreisky-Menschenrechtspreis erhielt. Da Darwish seit Februar 2012 erneut in Haft ist, nahm seine Frau und Kollegin Yara Bader den Preis entgegen. Sie sprach auch mit dem Journalistenclub. Darwish gründete 2004 in Damaskus das Zentrum für Medien und Pressefreiheit, das ab 2010 auch der UN über die Lage in Syrien Bericht erstattete. Seit Beginn der Arbeit wurde Darwish abgehört, später auch mit Ausreiseverbot belegt. Anfang 2012 stürmte das Regime das Zentrum und nahm zunächst jeden Mitarbeiter fest. Darwish wurde bis November 2012 unter schlimmsten Bedingungen festgehalten, seitdem sitzt er in einem regulären Gefängnis und kann Besuch empfangen. Seine Frau rechnet jedoch nicht mit seiner Freilassung, solange das Regime an der Macht ist. Darwish wurde bereits 2012 von Reporter ohne Grenzen ausgezeichnet.

Plakate aus dem berühmt gewordenen Ort Kafranbel (Provinz Idlib) sind seit Wochen in den USA & Kanada auf Reisen (Al-Jazeera). Die Wanderausstellung “Ich habe einen Traum” stellt 120 Originalplakate aus Kafranbel und einige Repliken aus, die später für wohltätige Zwecke versteigert werden sollen. Kafranbel wurde bereits 2011 wurde seine pointierten und satirischen Plakate berühmt. Dass Medienschaffende in Syrien gegenüber allen Seiten wehrhaft sein können, zeigt ein Protest aus Daraa. Auch die FSA dürfe die Freiheit der Medienschaffenden nicht einschränken, nur eine freie Presse könne beim Wiederaufbau des Landes helfen. Immerhin erhielten die Protestierenden Beistand einiger FSA-Einheiten. In Daraa demonstrierte bereits vor Wochen eine lokale Initiative per Streik gegen Auswüchse der Rebellen – mit Erfolg: gegen die Übeltäter wurde rasch vorgangen.

Ein kürzlicher Vorfall in Aleppo schreckte SyrerInnen weit über die Stadt hinaus auf. Wie auch t-online berichtete, erschossen islamistische Rebellen einen 15-jährigen Jungen mitten in seinem Viertel. Der Grund: Sie warfen ihm Gotteslästerung vor! Die oppositionelle Beobachtungsgruppe für Menschenrechte verurteilte die Tat schwer. Al-Arabiya berichtet ebenfalls über den Mord an dem Jungen und interviewte die Eltern. Der Junge, Muhammad (früheres Foto), war erst 14 (Jahrgang 1999), arbeitete als Kaffeverkäufer auf der Straße und wurde kaltblütig von Bewaffneten erschossen. Es gibt widersprüchliche Angaben, nach denen er zuvor bereits an einem anderen Ort ausgepeitscht wurde. Mit dem vollstreckten Todesurteil wollten die Islamisten wohl ein “warnendes” Exempel statuieren – haben aber endgültig den Zorn der SyrerInnen auf sich gezogen. Die Eltern verlangen von der FSA, gegen die Täter vorzugehen. Es wird davon ausgegangen, dass diese keine Syrer sind, da sie nicht den lokalen Dialekt sprachen. Arabiya berichtet, Regimemedien hätten die Geschichte sofort aufgegriffen – aber statt dem getöteten Muhammad ein Opfer aus Banyas gezeigt. Dort hatten regimeloyale Kräfte gemordet.

In Aleppo kam es am Folgetag des Mordes an Muhammad bereits zu Demonstrationen aufgebrachter und wütender BürgerInnen. Vor dem Sharia Council der Stadt – dem vorgeworfen wird, nichts zur Verhinderung der Tat unternommen zu haben – hallte der Ruf  “Das Sharia Council wurde zum Luftwaffengeheimdienst”. Letzterer ist der gefürchtetste Regimegeheimdienst und für seine Brutalität bekannt. Auch vor dem Haus des Toten gab es einen Mahnwache. Das Motto der Demonstranten hieß “Bis hierher und nicht weiter” (FB-Seite) und wendet sich gegen Verstöße gegen die Revolution und jeglichen Verstoß gegen das Recht der SyrerInnen auf Freiheit und Leben. Der junge Muhammad wurde im Internet sogleich mit dem Jungen Hamza al-Khatib gleichgesetzt, der durch Regimekräfte 2011 umgebracht wurde. So schrecklich der Vorfall ist, hat er die SyrerInnen erneut in den Zielen ihrer ursprünglichen Revolution bestärkt. An die Adresse der Mörder des Jungen Muhammad gerichtet, hält dieser Mann zudem folgendes Plakat hoch: “Unsere Religion (der Islam) ist der Glaube der Gerechtigkeit, der Vergebung und der Gnade – nicht der Glaube des Tötens und des Verrats.” Von der FSA und dem Sharia Council in Aleppo wird erwartet, die Täter dingfest zu machen und solche Taten in Zukunft zu unterbinden. In einer abendlichen Demo gedachte auch Kafranbel des getöten Muhammad und forderte zur Verurteilung dieses Verbrechens auf.

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