Fragen an AktivistInnen zu Genf III: „Das Wichtigste für uns ist, dass das Töten aufhört“

Hassan Abu Nouh, 29, Talbiseh Die Stadt Talbiseh liegt im nördlichen Umland von Homs im Westen Syriens. Die Stadt ist seit Ende 2012 belagert. Es ist die erste Region, die Ende September 2015 von russischen Luftangriffen betroffen war.  Was erwartest Du von der dritten Verhandlungsrunde der Friedensgespräche in Genf? Was könnte im besten Falle erreicht […]

Hassan, 29, einer unserer Projektpartner aus Talbiseh
Hassan, 29, einer unserer Projektpartner aus Talbiseh

Hassan Abu Nouh, 29, Talbiseh

Die Stadt Talbiseh liegt im nördlichen Umland von Homs im Westen Syriens. Die Stadt ist seit Ende 2012 belagert. Es ist die erste Region, die Ende September 2015 von russischen Luftangriffen betroffen war.

 Was erwartest Du von der dritten Verhandlungsrunde der Friedensgespräche in Genf? Was könnte im besten Falle erreicht werden?

Die Menschen setzen ziemlich viele Hoffnungen in die Verhandlungen in Genf, weil die Situation hier so hoffnungslos ist. Sie hoffen, dass ein Waffenstillstand und damit ein Ende der täglichen Bombardierungen sowie eine Öffnung der Belagerung erreicht werden wird. Manche hoffen sogar auf noch mehr Verbesserungen und sehen die Verhandlungen in Genf quasi als Ausgangspunkt für eine Lösung der gesamten Situation. Insgesamt sind sie sehr optimistisch und denken, Genf könnte der Beginn einer politischen Lösung sein.

In der Realität vor Ort aber ist davon allerdings noch rein gar nichts zu spüren. Seit Sonntagnacht um zwölf Uhr bis jetzt gerade (12.00 mittags) gibt es einen heftigen Luftangriff auf Talbiseh und die anderen umliegenden Städte. Seit Beginn der Verhandlungen bis heute gab es circa 60 bis 70 Luftangriffe durch das Regime und russische Kampfflugzeuge. Schätzungsweise übt die russische Luftwaffe rund 80% der Angriffe aus.

Außerdem befinden wir uns seit circa einem Monat in einer kompletten Belagerung. D.h. der letzte Zugang, über den überhaupt noch Lebensmittel und andere Dinge in das seit 2013 belagerte Gebiet gelangten, wurde geschlossen. Die Preise steigen täglich und es gibt jetzt schon kein Brot und keinen Zucker mehr zu kaufen.

Wir [die AktivistInnen] denken deswegen selbst leider nicht, dass die Verhandlungen diesmal ein ernsthafter Versuch zu einer Lösungsfindung sind. Wir werden nach wie vor angegriffen und das Regime hat unsere komplette Lebensmittelversorgung abgeschnitten. Gestern gab es auch Angriffe mit Chlorgas auf den Damaszener Stadtteil Moadamieh. Wir haben das Gefühl, dass sich die Situation gerade noch mehr zuspitzt und eskaliert anstatt besser zu werden – und das vor allen Dingen im Hinblick auf die russische Beteiligung an den Angriffen. Gerade die russische Regierung kommt uns deswegen extrem scheinheilig vor, was die Verhandlungen angeht.

Ihr fragt nach den bestmöglichen Ergebnissen: Es wird sich viel an den Forderungen der Opposition in der ersten Verhandlungsrunde in Genf orientiert – dazu gehört zum Beispiel, dass Assad abtritt und das Land verlässt und das Innen- und das Verteidigungsministerium aufgelöst werden. Natürlich stehen wir immer noch hinter diesen Forderungen. Realistisch muss man aber sagen, dass es schon als sehr gutes Ergebnis betrachtet werden könnte, wenn ein Waffenstillstand auf nationaler Ebene sowie eine Öffnung aller Belagerungen erreicht würde. Das wichtigste ist für uns erst einmal, dass das Töten aufhört. Und dass die Menschen nicht mehr in diesem Hysteriezustand leben müssen, in dem keiner arbeiten kann, auch nicht politisch arbeiten. Es ist ein Zustand, in dem die Menschen ständig mit Luftangriffen rechnen und sich in Bunker und Schutzräume flüchten müssen. Jeden Tag sterben Hunderte SyrerInnen. Deswegen wäre das minimale aber gleichzeitig auch beste Ergebnis, wenn es zu einem Waffenstillstand kommt und damit die täglichen Bombardierungen vom Regime und von der russischen Regierung aufhören.

Was muss am Dringendsten geschehen in Deiner Region?

Am Wichtigsten ist es, dass nicht weiter bombardiert und die Belagerung unserer Region beendet wird, damit es einen Weg nach draußen gibt und Lebensmittel hereingebracht werden können. Denn die Menschen können diesen Zustand nicht länger aushalten.

Was werden die Gespräche in Deiner Region verändern? Inwiefern werden sie Einfluss auf das zivile Engagement in Syrien haben?

Sollte es zu einem Waffenstillstand und humanitären Korridoren kommen, wäre das großartig. Denn dann könnten wir zur Revolution, unserer revolutionären Arbeit zurückkehren und wieder als politische Bewegung agieren. Der Zustand, in dem wir jetzt leben, ist einfach nur Krieg. Und im Krieg ist es sehr schwer, politisch zu arbeiten. Die politische Bewegung ist momentan sehr schwach in unserer Region. Sollten die Luftangriffe, das tägliche Sterben, die anhaltenden Gefechte an den Fronten und auch die furchtbare humanitäre Situation ein Ende haben, dann sind wir sicher, dass die Menschen sich wieder politisch engagieren werden. Wir würden zum Beispiel wieder Demonstrationen auf den Straßen sehen. Wir betrachten also einen Waffenstillstand als den ersten Schritt. Er wäre allerdings schon die Hälfte der Lösung. Denn ohne diesen Kriegszustand, der vom Regime erzeugt wird, könnten wir hier ein normales Leben führen, uns Gedanken über die Zukunft Syriens machen und uns vor Ort neuen Dingen wie zum Beispiel einem neuen Bildungssystem auf lokaler Ebene widmen.

Wer sollte Syrien in den Friedensgesprächen repräsentieren?

Unserer Meinung nach kann jeder, der die Standpunkte der Menschen in Syrien und die Prinzipien der Revolution vertritt, das oppositionelle Syrien repräsentieren. Das könnten SyrerInnen selbst, aber auch andere, zum Beispiel AraberInnen oder EuropäerInnen, sein. Das einzige, was dafür bei uns zählt, ist, dass die Seite, die Syrien vertritt, auch die Werte der Revolution vertritt. Denn damit vertritt er auch die Opposition im Inland. Die aktuelle Oppositionsdelegation versucht, die Sorgen und Nöte der Bevölkerung in Syrien zu benennen. Deswegen genießt sie hier bei uns ein gutes Ansehen. In Zukunft wäre es natürlich auch gut darüber nachzudenken, wer für eine Regierung Syriens in Frage käme.

Das Interview führte Sophie von Adopt a Revolution

Die AktivistInnen aus der Region gehen davon aus, dass sich das Szenario in und um Talbiseh schnell so entwickeln könnte, wie in den letzten Monaten in Madaya!

Weiterhin werden Gebiete in Syrien systematisch belagert und die Menschen darin bewusst ausgehungert, um sie zur Aufgabe zu zwingen. Helfen Sie uns öffentlichen Druck auszuüben. Unterstützen Sie die Forderungen der SyrerInnen an die UN, unvermittelt Hilfsgüter in alle belagerten Gebiete zu bringen!
 
Unterzeichnet unseren Appell: https://breakthesieges.org/de
#breakthesieges

 
Das freie Medienzentrum aus Talbiseh, nördlich von Homs, berichtet über die Kämpfe zwischen Regime und Rebellen in der Gegend. Die Stadt mit 50.000 EinwohnerInnen liegt an der Autobahn zwischen Damaskus und Aleppo. Sie wird seit drei Jahren vom Assad-Regime belagert. Seit Anfang Januar 2016 ist auch der letzte Zugang zur Stadt geschlossen worden. Am 30. September 2015 bombardierten russische Kampfjets die Stadt – angeblich im internationalen Kampf gegen den so genannten „islamischen Staat“, obwohl es hier bislang von ISIS keine Spur gibt.

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