Wer wird der nächste syrische Präsident?

Kopf an Kopf! Alles über die Wahlen in Syrien

Es wird spannend: In Syrien wird ein neuer Präsident gewählt. Wird es wieder Assad? Oder wieder Assad? Oder doch Assad? Wir erklären, warum bei den „syrischen Präsidentschaftswahlen“ schon das Wort „Wahlen“ eine Lüge ist.

Wer wird der nächste syrische Präsident?

Am 26. Mai 2021 wird in Syrien ein neuer Präsident gewählt, der der alte sein wird. Auch wenn allen Beteiligten klar ist, dass diese Wahl eine Farce ist, trägt die Inszenierung des Urnengangs dazu bei, dass manche Menschen das Assad-Regime mit einer “Regierung” und den Diktator Assad mit einem “Präsidenten” verwechseln. Deshalb lohnt es sich, sehr genau hinzusehen.

Wer darf wählen?

Mindestens 8 Millionen Syrer*innen leben im Ausland, rund 6 Millionen davon flohen vor dem seit 2011 andauernden Konflikt. Zwar können syrische Staatsbürger*innen, die außerhalb des Landes leben, theoretisch in einigen syrischen Botschaften wählen – aber nur, wenn sie in ihrem Pass einen Ausreisestempel vorweisen können. Damit schließt das Regime den allergrößten Teil der Geflüchteten von den Wahlen aus. Denn wer auf der Flucht ist, reist fast immer undokumentiert aus. Das gilt insbesondere für all jene, die vor Verfolgung durch das Regime fliehen mussten.

Keine Chance auf eine Wahlteilnahme haben auch all jene, die im von oppositionellen Milizen kontrollierten Nordwesten oder dem von der kurdisch dominierten Selbstverwaltung Nordosten leben. Das gilt für jene, die dort einheimisch sind sowie für die Millionen, die aus anderen Gebieten vom Assad-Regime dorthin vertrieben wurden. Allein deshalb ist rund ein Drittel der Syrer*innen von den Wahlen ausgeschlossen. Wenn hier jemand wirklich wählt, dann die Regierung ihr Wahlvolk. Die Vertreibungspolitik hat hierfür schon die Grundlage geschaffen.

Protest vor der syrischen Botschaft in Berlin am 20.5.2021

Sind die Wahlen frei?

Syrien unter Bashar al Assad ist ein Geheimdienststaat, in dem „die Wände Ohren haben“, wie es unter Syrer*innen heißt. Wer oppositioneller Aktivitäten verdächtigt wird, dem drohen Verhöre, willkürliche Inhaftierung, Folter, Verschwinden-Lassen und Tötung. Zehntausende Menschen sind in Syrien aus politischen Gründen inhaftiert.

Die syrische Menschenrechtsorganisation Syrian Association for Citizens Dignity (SACD) und das Syrische Netzwerk für Menschenrechte (SNHR) gehen von aktuell rund 130.000 Gefangenen aus. Zehntausende Menschen gelten als verschollen, weil das Assad-Regime sie in seinen Gefängnissen verschwinden hat lassen. Laut SNHR geht es um rund 86.000 Verschwundene, mindestens 14.000 Menschen wurden zu Tode gefoltert. In einem solchen Folterstaat kann von „freien Wahlen“ nicht die Rede sein.

Gibt es Gegenkandidaten?

Ja, aber das ist relativ neu: Vor 2014 stimmten die Syrer*innen nur mit „Ja“ oder „Nein“ über die Präsidentschaft Bashar al Assads bzw. seines Vaters und Vorgängers Hafez al Assads ab. Praktischerweise waren die Wahlzettel dieser Referenden an manchen Orten bereits mit „Ja“ im Voraus ausgefüllt. Wer also mit „Nein“ stimmen wollte, musste nach einem Blanko-Zettel fragen – unter der Aufsicht der omnipräsenten Geheimdienste. Bei solchen Praxen geht es wohl weniger darum, das Wahlergebnis zu manipulieren – denn das wird am Ende sowieso gefälscht – sondern um eine Geste der Unterwerfung: Die Herrschaft zwingt die Bevölkerung, ihr gefälligst die Hand zu küssen.

Unter dem Eindruck des Aufstands wurden bei den Wahlen im Jahr 2014 erstmals Gegenkandidaten zugelassen, um der Inszenierung einen etwas demokratischeren Anstrich zu geben. Assad erhielt damals “nur” 88,7 Prozent. Wie statistische Analysen zeigen, waren die Wahlergebnisse von 2014 auf jeden Fall fabriziert. Die Innovation, Gegenkandidaten zuzulassen, hat nichts an der Tatsache geändert, dass die Wahlen eine Machtdemonstration des Regimes waren und keine demokratische Abstimmung.

Wer darf antreten?

Wer dieses Jahr bei den syrischen Präsidentschaftswahlen antreten will, musste schnell sein: Am 18. April wurde bekannt gegeben, dass die Wahlen am 26. Mai stattfinden. Registrieren lassen konnten sich die Bewerber*innen auf eine Kandidatur allein vom 19. bis zum 29. April. Dafür brauchten sie die Unterstützung von 35 Mitgliedern des Parlaments und mussten eine Reihe von Bedingungen erfüllen.

So dürfen Kandidat*innen etwa in den letzten zehn Jahren nicht außerhalb des Landes gelebt haben. Wer also vor Verfolgung ins Ausland fliehen musste, ist damit ausgeschlossen. Kandidat*innen dürfen darüber hinaus nicht mit einem*einer Ausländer*in verheiratet sein, müssen muslimisch sein, mindestens 40 Jahre alt und in Syrien geboren sein…

Das höchste Gericht, das aus von Präsident Assad ernannten Richtern besteht, wacht über diese Bedingungen. Tatsächlich entscheidet es letztlich nach politischem Gusto. Am Ende hat es von 51 Bewerber*innen (darunter immerhin sieben Frauen) drei als Präsidentschaftskandidaten zugelassen. Letztlich gilt in Syrien: Wer zur Wahl steht, bestimmt das Regime.

Wer steht 2021 zur Wahl?

  • Abdullah Sallum Abdullah, Jahrgang 1965, ehemaliger Minister für parlamentarische Angelegenheiten. Abdullah gehört der Sozialistischen Unionspartei an (Al-Wahdawiyyun Al-Ishtirakiyyun). Diese Partei ist Teil des Parteienbündnisses „Nationale Progressive Front“, das seiner Satzung nach der regierenden Baath-Partei untergeordnet ist. Das Bündnis soll oppositionelle Kräfte unter den Fittichen von Assads Baath-Partei einhegen beziehungsweise politischen Pluralismus vorspiegeln.
  • Mahmoud Ahmad Marai, Jahrgang 1957, Anwalt aus dem Umland von Damaskus, gehört zur vom Regime „tolerierten Opposition“, die vor allem versöhnliche Töne anschlägt. Marais Kandidatur soll den Wahlen einen demokratischen Anstrich geben. Das Regime dürfte durch zahlreiche Maßnahmen dafür sorgen, dass er keine realen Chancen hat.
  • Und natürlich: Bashar al Assad, Jahrgang 1965, von Beruf Diktator in Syrien, der im Jahr 2000 die Herrschaft von seinem seit 1970 herrschenden Vater Hafez al Assad erbte, der sich 2000 mit 99,7 Prozent, 2007 mit 99,8 Prozent und 2014 mit 88,7 Prozent der Stimmen zum “Präsidenten” wählen ließ und nun für eine weitere siebenjährige Amtszeit „kandidiert“.

Wie läuft der Wahlkampf?

Tatsächlich gibt es eine Art Wahlkampfsimulation.

Marai fordert eine Art gemeinsame Regierung der Baath-Partei und der von ihm vertretenen oppositionellen Kräfte. Das Motto seines Wahlkampfes ist „Gemeinsam“. Die staatliche Nachrichtenagentur Sanaa zitiert ihn in einem auch auf englisch verfügbaren Beitrag, in dem er in seine demütig vorgetragenen Forderungen stets die typischen Talking-Points des Regimes einfließen lässt: Syrien sei Opfer einer Verschwörung, Schuld an der ökonomischen Misere seien die USA, die Türkei und die Zionisten, Sanktionen zu fordern sei Verrat. Auf einem Plakat von Mahmoud Ahmad Marai heißt es sinngemäß „Gemeinsam für die Freilassung von politischen Gefangenen“. Auch wenn der Slogan im arabischen Original eher vorsichtig formuliert ist, ist das schon beachtlich kritisch.

Auf Abdullah Sallum Abdullahs Plakaten heißt es sinngemäß „Nein zum Terrorismus. Ja zum Kampf gegen die Besatzung” (womit neben den von Israel kontrollierten Golanhöhen die türkische Präsenz im Nordwesten gemeint ist, nicht die russische oder iranische Präsenz in Regime-Gebieten). Außerdem tritt er laut seinen Plakaten für die Bekämpfung von Korruption ein.

Assad-Plakate hängen auch jenseits des Wahlkampfes an zahlreichen Ecken der vom Regime kontrollierten Regionen, während des Wahlkampfes sind es nochmals mehr. In manchen Regionen zwingt das Regime offenbar Geschäftsleute dazu, Assad-Plakate aufzuhängen. Das eher als Logo gestaltete Wahlkampfmotto auf Assads Plakaten lautet sinngemäß ungefähr „Arbeit gibt Hoffnung“.

Das Regime versucht sich im Vorfeld von Wahlen auch durch „Wahlgeschenke“ zumindest etwas beliebter zu machen. So demobilisiert das Regime Soldaten, deren Militärdienst häufig über viele Jahre verlängert worden war, und beendet die Einberufung bestimmter Gruppen der Reservisten. Der teils jahrelange Militärdienst ist für viele Männer und syrische Familien in den Regimegebieten eine große Belastung. 

Ebenso erlässt das Regime vor Wahlen gerne Amnestien. Dieses Mal wurden unter anderem mehrere hundert Gefangene freigelassen, die in der letzten Zeit wegen „Online-Kriminalität“ inhaftiert worden waren. In der Regel ging es dabei um regimeloyale Journalisten, Juristen und andere Personen, die in Facebook-Posts oder auf anderen Plattformen die katastrophale ökonomische Situation angeprangert hatten und daraufhin festgenommen worden waren. Regime-Gegner*innen waren offenbar nicht unter den Freigelassenen.

Wie „fair“ der Wahlkampf ist, wird unter anderem dadurch illustriert, dass das syrische Kulturministerium mit den Bannern von Geheimdiensten und Divisionen unter anderem mit dem Slogan „Unsere einzige Wahl“ für Assad wirbt:

Warum gehen Syrer*innen überhaupt wählen?

Damit überhaupt Menschen zur Wahl gehen, nutzen die Geheimdienste des Regimes zahlreiche Hebel. So werden etwa Menschen, die in staatlichen Institutionen arbeiten, oft gemeinsam in Bussen zur Wahl gefahren, sodass auffällt, wer sich dem Urnengang verweigert. Das gilt auch für die Angestellten von vielen Unternehmen, die ihre Leute zum Wählen bringen. Wer nicht wählen geht, macht sich schnell verdächtig, das Regime abzulehnen, und das wollen viele Syrer*innen lieber nicht riskieren. Selbst im Libanon, wo rund 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge leben, werden Syrer*innen auf unterschiedliche Art und Weise dazu gezwungen oder zumindest genötigt, zur Wahl zu gehen und natürlich Bashar al Assad zu wählen.

Dazu kommt, dass es sich bei den Wahlen um ein eingeübtes Ritual handelt. Der US-amerikanischen Politologin Lisa Wedeen zufolge geht es der Politik im Staate Assads nicht darum, Menschen von der Regierungspolitik zu überzeugen, sondern um eine ritualisierte „Als-Ob-Politik“, in der die „Staatsbürger*innen“ in sinnlosen Ritualen sinnlose Parolen nachbeten, weil „man das so macht“ und sich „das so gehört“. Das dürfte auch vielen (ehemaligen) Bürger*innen anderer Diktaturen bekannt vorkommen.

Von wem werden die Wahlen anerkannt?

Die internationale Gemeinschaft wird diese Wahlen nicht anerkennen – und zwar schon allein deshalb, weil die UN-Resolution 2254 verlangt, dass Präsidentschaftswahlen eine Reform der syrischen Verfassung vorangehen muss. Der von den UN vermittelte politische Prozess, der zu einer neuen Verfassung führen soll, wird aktuell vom Regime blockiert.

Auch besagt die UN-Resolution 2254, dass alle Syrer*innen wählen können müssen und dass die Wahlen unter UN-Aufsicht stattfinden sollen. Das Assad-Regime hat allerdings nicht Vertreter*innen der UN zur Wahlbeobachtung eingeladen, sondern Wahlbeobachter*innen aus dem Iran, aus Russland, China, Venezuela und anderen Staaten, die das Assad-Regime unterstützen und selbst nicht für besonders demokratische Wahlen bekannt sind.

Warum überhaupt Wahlen?

Allein schon der Umstand dass die Wahlen stattfinden, wird vom Assad-Regime und der russischen Regierung als großer Sieg gefeiert. Putin, das Assad-Regime und all seine Unterstützer*innen werden die Wahlen nutzen, um Assad als legitimen Präsidenten eines souveränen Staates hinzustellen. Es ist zu befürchten, dass in Europa einige auf diese Inszenierung hereinfallen: Von ganz Rechts bis Links gibt es immer wieder Stimmen, die das Assad-Regime als „legitime Regierung” und Syrien als “souveränen Staat” bezeichnen.

Es muss daher immer wieder daran erinnert werden: Assad verdankt seine Macht nicht dem Willen der syrischen Wähler*innen, sondern seiner Geheimdienste und seiner russischen und iranischen Unterstützter. Assad ist kein legitimer Präsident, sondern ein Diktator, der seine Herrschaft von seinem Vater erbte und sie nur mit brutalster Unterdrückung und ausländischer Hilfe sichern kann.