Im Oktober 2015 flieht Saeed al-Batal aus den umkämpften Damaszener Vororten. Sein Weg führt ihn durch die geheimen Tunnel, die das belagerte Ost-Ghouta mit Damaskus verbinden und zum Schmuggel von Nahrung und Waffen gegraben wurden, – und von dort weiter ins sichere Beirut. Im Gepäck: Festplatten. Acht Terabyte Videomaterial, über 450 Stunden.
Aus ihnen entstand die Dokumentation “Still Recording”, für die Saeed und sein Co-Regisseur Ghiath Ayoub im September auf dem Filmfestivals von Venedig mit fünf Auszeichnungen bedacht wurden, darunter der Preis der Filmkritikervereinigung FIPRESCI.
“Kunst ist Widerstand”, sagt Saeed. “Nicht nur gegen das Regime, sondern auch gegen die finsteren Gedanken in dir. Sie hilft dir, den Verstand zu bewahren. Das ist das Wichtigste im Krieg.”
Er heißt eigentlich anders. Dass Saeed, 30, heute in europäischen Kinosälen stehende Ovationen entgegennehmen kann, ist so wenig selbstverständlich wie der Umstand, dass er noch am Leben ist.
Zeigen, was nicht gezeigt werden darf
Zwar ist er schon als Kind von Kameras fasziniert, stiehlt immer wieder den Apparat seiner Eltern, doch er ist auch pragmatisch und so studiert er schließlich Maschinenbau. Eine Festnahme wegen der Teilnahme an einer regimekritischen Demonstration beendet Saeeds Ausbildung 2011 jäh. Zwei Wochen lang sitzt er in Haft und trifft hinter Gittern vor allem junge Menschen. Viele hatten Fotos oder Videos von Protesten ins Netz gestellt. Ihr Verbrechen: Zeigen, was nicht gezeigt werden durfte. Deshalb beschließt auch er, wieder zur Kamera zu greifen.
Ab 2006 lebt er in Douma, einem Vorort von Damaskus, in der Region Ost-Ghuta. Saeed hat das Vertrauen der Menschen und so beginnt er während des Syrischen Frühlings Demonstrationen zu filmen. Zugleich reist er 2011 durchs ganze Land: Homs, Aleppo, Damaskus. Er schmuggelt Kameras, Medizin und Geld zu Dissidenten. Dank seines Ausweises kann er sich noch recht lange frei im Land bewegen, denn als Herkunftsort ist dort Tartus notiert. Die Hafenstadt ist Hochburg der Alawiten, Assads Konfession. Deshalb gilt er den Soldaten an den Checkpoints als unverdächtig.
Im Juni 2012 wird er in Douma Zeuge eines Massakers. “In dieser Nacht entschieden sich viele junge Männer, zur Waffe zu greifen”, erzählt Saeed. Er selbst bleibt bei der Kamera, filmt fortan aber auch an der Front. Später bringt er jungen Menschen das Filmen bei. Dabei trifft er andere, die die Kamera ähnlich lieben wie er. Einfache Jungs, manche von ihnen aus der Armee desertiert. Mit ihnen gründet er 2013 das Rusul-Studio. Ein Medienkollektiv. Sie beschließen, einfach alles zu dokumentieren. Alltag, Politik, Kämpfe.
“Hunger ist die ultimative Waffe”
Doch ab 2013 zieht sich auch der Belagerungsring der syrischen Armee um Ost-Ghouta langsam zu. “Hunger ist die ultimative Waffe, sie fördert in jedem die Hässlichkeit zutage”, sagt Saeed. “Wenn dein Kind tagelang nichts gegessen hat, bist du bereit zu töten, um ihm Nahrung zu besorgen.”
Dennoch filmen sie weiter. “Es wurde zu einer Obsession. Und auch eine Ausrede dafür, weiterhin dort zu sein, in dieser grauenvollen Situation. Zu dokumentieren, was geschieht, war das Geringste was ich tun konnte. Aber ich konnte zumindest etwas tun.” Doch der Druck wächst weiter. Tag für Tag Bombenangriffe. “Wir schwammen im Blut. Leute starben auf den Dächern, Leute starben in den Kellern. Nirgends war es sicher.” Saeed und seine Freunde haben kaum Zeit, sich anzusehen, was sie da tagsüber eigentlich gefilmt haben. Douma gerät derweil unter Kontrolle der von den Saudis finanzierten salafistischen Jaysh al-Islam, der ,Armee des Islam’.
Weitermachen, einfach weitermachen. Das Rusul Studio gedeiht trotz aller Widrigkeiten. Sie stellen diverse Fotoprojekte auf die Beine, bilden andere im Umgang mit der Kamera aus, verpassen der leidenden grauen Stadt Farbtupfer mit Graffiti. Und schließlich eröffnen sie gar ein Tonstudio, das der ganzen Region offen steht. Sie produzieren Musikvideos. Rap. Sie geben unzählige Workshops: Filmen, Schneiden, Fotografieren, Tonaufnahmen. Sie werden zur Anlaufstelle für internationale Radiosender wie BBC und NPR. Und immer weiter filmen sie das Geschehen in Ost-Ghouta, ob Alltag oder Front. Von alldem erzählt “Still Recording”. Und davon, wie sie unterdessen erwachsen wurden. Das Studio wird im März 2018 von der syrischen Luftwaffe in Schutt und Asche gebombt, einen Monat später marschiert die Armee ein.
Einstehen für die eigenen Überzeugungen
Trotz der Islamisten haben sie sich nie verstellt. “Wir hatten das Vertrauen der einfachen Menschen gewonnen. Nicht das der Parteien, aber das der Menschen.” Das schützt sie, obwohl sie auffallen. Sie sind alles andere als konservativ, tragen lange Haare oder trinken Schnaps, wenn sie eine intakte Flasche in den Trümmern finden. Saeeds Eltern sind Alawiten, unter seinen Mitstreitern sind Kinder von Ismailiten und Christen. “Wir haben den Leuten einfach nichts vorgespielt, sie nie angelogen. Sie wussten immer, dass wir anders sind”, sagt Saeed. Auch das ist ein Motiv ihres Films. Sie mögen den Kampf gegen Assad verloren haben, doch etwas haben sie für ihre Kinder festgehalten: “Dass es möglich ist, du selbst zu sein. Dass es möglich ist, für das einzustehen an das du glaubst.” Egal wie widrig die Umstände auch sein mögen.
Ihr Publikum sei zuvorderst diese nächste Generation, sagt Saeed. Sie sei der Kompass für ihre Arbeit gewesen. “Denn irgendwann hatten wir die Hoffnung in alles andere verloren. In die Menschenrechte, in die Vereinten Nationen, in die westlichen Staaten, sogar in unsere Kameraden in der Revolution, die immer radikaler wurden.”
Nach seiner Ankunft in Beirut hat Saeed Angst, mit der Arbeit an “Still Recording” zu beginnen. “Ich hatte bis dahin nie in meinem eigenen Gedächtnis gegraben”, sagt er heute, denn da waren Massaker, Angriffe mit Giftgas, Kämpfe. Und der Alltag, der immer beschwerlicher wurde, mit jedem Menschen, der eines Tages einfach verschwand, weil eine Rakete oder Bombe ihm das Leben genommen hatte. Der junge Cineast hat das alles sehr lange nicht verarbeitet. Alles sei in einzelnen Kapiteln abgespeichert gewesen, die er nie zu einem Ganzen zusammengefügen wollte: “Es zu trennen macht es einfacher, damit umzugehen, dann hat es jeweils weniger Gewicht.”
“Es ist ein ehrlicher Film”
Zwei Jahre dauert das Schneiden des Films. Saeed und Ghiath fürchten, etwas aus dem Material zu machen, das es nicht ist —, dass es zu Propaganda verkommen könnte. Die Verantwortung wiegt schwer, viele Protagonisten des Films sind mittlerweile tot. “Wir erzählen fünf Jahre in zwei Stunden. Der erste Schnitt ist die erste Lüge”, sagt Saeed. “Aber letztlich haben wir eine Version erschaffen, die so nah wie möglich an der Wahrheit ist. Es ist ein ehrlicher Film.”
Saeed hofft auf ein neues syrisches Kino, das seinen Beitrag dazu leistet, dass die Welt nicht stillschweigend über die Verbrechen des Assad-Regimes hinweggeht, als sei nichts passiert. Das will er nicht akzeptieren. “Es geht nicht nur um Macht”, sagt er. “Es geht auch um Ethik. Und an dieser Front können Kino und Kunst von Nutzen sein. Hier ist Diktatur im Nachteil.” Kürzlich hat das Regime seinen ersten große Propagandafilm über den Krieg abgedreht. “Er ist gigantisch, sie hatten zig Millionen Dollar und einen Regisseur, der in Frankreich studiert hat”, sagt Saeed. “Aber anders als unsere Geschichte, basiert dieser Film nur auf Lügen.”
Jan-Niklas Kniewel