Lasst endlich Syrerinnen und Syrer zu Wort kommen!

Tag für Tag wird im Öffentlich-Rechtlichen über Syrien gesprochen – nur mit Syrerinnen und Syrern spricht man dort selten. Am eindrücklichsten demonstrieren dies die Talkrunden von Illner, Will und Co. Warum kommen nicht endlich SyrerInnen zu Wort – statt vermeintlicher ExpertInnen, deutscher PolitikerInnen, Ex-Botschaftern und Militärs?

Hunderttausende Syrerinnen und Syrer leben mittlerweile in Deutschland. Darunter sind viele junge Männer und Frauen, die in Syrien Untergrundzeitungen herausgaben, die Kampagnen für Frauen- und Minderheitenrechte ins Leben riefen, Demonstrationen gegen Diktatur und Dschihadismus organisierten, die sich gegen die Spaltung der Gesellschaft stemmten, für eine bessere Zukunft stritten – und vor dem Terror des Assad-Regimes oder dem Terror der Dschihadisten schließlich nach Deutschland fliehen mussten. Hunderte von ihnen gingen vor zwei Wochen in verschiedenen deutschen Städten auf die Straße, um Solidarität mit den in Aleppo verbliebenen Menschen zu demonstrieren, rund 1.000 von ihnen alleine in Berlin.

Doch wer spricht im deutschen Fernsehen, wenn es um den Krieg in Syrien geht? Ein Beispiel: In Anne Wills letzter Sendung unter dem Motto “Ist Aleppo verloren?” hatte die Redaktion den CDU-Politiker Norbert Röttgen geladen, Katharina Ebel, eine Koordinatorin der Organisation SOS-Kinderdörfer, John Kornblum, den früheren US-Botschafter in Deutschland, den russischen Botschafter Wladimir Grinin und den ehemaligen Bundeswehrgeneral Harald Kujat, der dem rechtsextremen Putin-freundlichen Magazin Compact ein Interview gewährte und für den Think Tank “Dialog der Zivilisationen” arbeitet – eine Institution, deren Auftrag es ist, die Politik Wladimir Putins zu verkaufen.

Talk-Show-„Experten“ unter sich
Letztere Informationen wurden dem Publikum allerdings verschwiegen. Auch wird beiden seitens der Moderation kaum widersprochen, wenn sie Unwahrheiten präsentieren, wie etwa dass im belagerten Osten der Stadt Aleppo die Terrorgruppe ISIS präsent sei (Grinin). Auch angebliche Experten wie Jürgen Todenhöfer dürfen immer wieder offensichtlich Falschinformationen in öffentlich-rechtlichen Programmen verbreiten – ganz zu schweigen von Sahra Wagenknecht, die zum Thema Syrien gern befragt wird, dazu offensichtlich aber nur über sehr begrenzte Expertise verfügt.

Dass Syrerinnen und Syrer in deutschen Talkshows nicht zu Wort kommen, kann vor diesem Hintergrund kaum daran liegen, dass die RedakteurInnen fürchteten, Menschen, die selbst aus dem Land flohen, seien „nicht neutral“, „nicht seriös“ oder „nicht kenntnisreich“ genug für eine Einladung. Vielmehr scheint der Wahl der GesprächspartnerInnen ein gewisser Paternalismus zu Grunde zu liegen, der Syrerinnen und Syrer nur als passive Opfer kennt und nicht als politisch denkende und handelnde Menschen. Flüchtlinge, so scheint es, dürfen in deutschen Medien allerhöchstens über ihr Dasein als Flüchtlinge sprechen, nicht aber über die Situation in ihrem Herkunftsland und internationale Politik. Auch dass sie „betroffen“ seien, und somit „parteiisch“, kann bei einem Blick auf die Gästelisten anderer Sendungen zu bestimmten Themen kein Argument sein, ist hier doch verbreitet, dass Betroffene durchaus zu Wort kommen.

Äquidistanz statt Solidarität
Dass in den Talkshows stets nur VertreterInnen oder ApologetInnen der weltpolitischen Akteure zu Wort kommen, hat gravierende Folgen dafür, wie der syrische Bürgerkrieg hierzulande diskutiert wird. Wird der Krieg in Syrien allein als geostrategischer Kampf der Großmächte verhandelt, tritt an die Stelle von Solidarität mit den Betroffenen kalte Äquidistanz oder gar Zynismus.
Den VerteidigerInnen des Assad-Regimes und der russischen Intervention kommt diese Äquidistanz gelegen: Immer wieder behaupten sie, dass alle Seiten gleichermaßen Kriegsverbrechen begingen, um für Neutralität des Westens zu werben. So richtig es ist, dass alle Seiten unfassbare Gräuel verüben, rechtfertigt der Terror der Dschihadisten kein einziges der vom Regime und seinen Verbündeten verübte Kriegsverbrechen.
Zudem ist das Ausmaß der verübten Verbrechen durchaus verschieden: Dass auch West-Aleppo immer wieder von oppositionellen Milizen beschossen wird, heißt nicht, dass das vom Regime gehaltene Gebiet “genauso beschossen” würde (Kujat), wie jenes der Opposition, das Tag für Tag mit Brandbomben, geächteter Streumunition und selbst bunkerbrechenden Waffen angegriffen wird – mit einem besonderen Fokus auf ziviler und medizinischer Infrastruktur. Das Regime und seine Verbündeten bleiben, wie ausnahmslos alle unabhängigen Menschenrechtsorganisationen und auch die UN feststellen, für die überbordende Mehrheit aller zivilen Opfer verantwortlich.

Schrille Stimmen bringen Quote
Unbekannte Syrerinnen und Syrer, von denen viele differenzierter argumentieren dürften als Kujat oder Todenhöfer, mögen weniger Quote bringen als erprobte Standard-Talkshowgäste, die stets die schrillsten Meinungen am lautesten äußern. Aber kann es dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen nur um Quote gehen? Einen umfassenden Überblick über „das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen“ zu geben – so wird die Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Sender im Rundfunkstaatsvertrag beschrieben.

Tatsächlich hätten gut besetzte Takshows das Potential, Unwissen und Gleichgültigkeit gegenüber der Katastrophe in Syrien Aufklärung entgegenzusetzen. Wie das geht, illustrierten jüngst Sylke Tempel, Chefredakteurin von “Internationale Politik”, und die Syrien-Expertin Kristin Helberg im Presseclub vom 2. Oktober, die den Halb- und Unwahrheiten Jürgen Todenhöfer Fakten und Informationen entgegensetzten.

Die Verantwortlichen der Talkformate versuchen ein möglichst großes Publikum zu binden, doch damit produzieren sie im Öffentlich-Rechtlichen Talkshows, die Desinformation statt Aufklärung betreiben. Warum muss das so sein? Vielleicht unterschätzt man in den Redaktionen einfach nur die eigenen ZuschauerInnen.