Stand der Lage in Nordost-Syrien am 17. Oktober 2019

Neue Phase im Syrienkrieg: Was die türkische Invasion bisher bedeutet

Vor gut einer Woche startete die Türkei ihren Angriffskrieg gegen die Kurden in Nordost-Syrien und damit ein großes geopolitisches Spiel um Macht und Einfluss in der Region. Ein komprimierter Überblick über die Ereignisse sowie über die Gewinner und Verlierer:

Stand der Lage in Nordost-Syrien am 17. Oktober 2019

Lange hatte die türkische Regierung in Ankara ihre Militär-Offensive auf Nordost-Syrien geplant. Als US-Präsident Donald Trump mit dem Rückzug der US-Truppen aus dem Gebiet den Weg final frei macht, nutzte die Türkei ihre Chance: Nur zwei Tage später griff sie an – und zwar auf dem gesamten Grenzgebiet. 

Die Stunde des Terrors

Mit Luftangriffen und Bodentruppen versuchte die Türkei Boden auf dem syrischen Gebiet zu gewinnen. Ihre Armee erhält dabei Unterstützung von islamistischen Söldnergruppen. 

Besonders im Fokus der türkischen Angriffe: Die beiden grenznahen Städte Ras Al-Ain/Sere Kaniye und Tell Abyad/Girê Sipi. Am Sonntag, den 13. Oktober bombardierten türkische Truppen außerdem die Stadt Ain Issa. Dort sind in einem Gefangenenlager viele IS-Anhänger*innen und ihre Familien untergebracht. 785 von ihnen nutzten die Angriffe der türkischen Luftwaffe und islamistischen Söldner auf das Camp und die Region zur Flucht.

David gegen Goliath

Die kurdischen Kämpfer versuchen zwar an allen Angriffspunkten entlang der Grenze dagegen zu halten – die Kräfteverhältnisse sind jedoch ungleich. Aus Verzweiflung gehen sie vier Tage nach Start der Invasion, am Sonntag den 13. Oktober, einen Deal mit dem Assad-Regime ein. Knapp 100.000 Menschen sind da bereits auf der Flucht, dutzende tot.

Der große Gewinner: Assad

Die Vereinbarung zwischen dem Assad-Regime und der SDF sieht ein gemeinsames Vorgehen gegen die Türkei-Offensive vor. Das Regime unterstützt die SDF aber keineswegs selbstlos, denn: Teil der Abmachung ist auch, dass das Regime wieder die Kontrolle über einige der seit 2013 unter kurdischer Selbstverwaltung stehenden Gebiete übernimmt. Der Diktator fasst so langsam wieder Fuß in dem seit 2013 autonomen Norden Syriens – die Zivilgesellschaft vor Ort hat das Nachsehen. 

*Aziz heißt in Wirklichkeit anders. Wir haben, auf seinen eigenen Wunsch hin, seinen Namen geändert, da er Angst vor staatlicher Repression und Verfolgung hat.

Unser Projektpartner Aziz* befürchtet Schlimmes: “Ich glaube nicht an Versprechen oder Garantien, dass uns nichts passiert. Wir haben in Daraa gesehen, dass dort Menschen nach dem Deal mit dem Regime und trotz russischer Garantien verschwunden sind und gefoltert wurden. Dieses Regime hat einen totalitären Charakter: Es nimmt entweder alles oder nichts.

Bereits am Montag, 14. Oktober, einen Tag nach Unterzeichnung des Abkommens kommen syrische Regierungseinheiten in der Stadt Ain Issa an. In Hassaka und Qamischli war das Regime in einigen Stadtteilen bereits vorher präsent. Auch die Region von Manbij bis zur irakischen Grenze will das Regime übernehmen und komplett absichern. Sollte das Regime auch die türkische Grenze im Norden und die irakische im Osten erreichen, wäre das ein Durchbruch für Assads Vorhaben, seine Macht im gesamten Land wiederherzustellen.

Unfähig und untätig: Die EU

Während in Nordost-Syrien das Militär tobt und Hunderttausend Menschen zur Flucht zwingt, bleibt die EU weitgehend tatenlos. In einem gemeinsamen Statement der Mitgliedstaaten wird die Militär-Offensive zwar verurteilt, da sie “die Stabilität und Sicherheit der gesamten Region untergrabe, mehr Leidtragende und weitere Geflüchtete verursache”. Auf ein Waffenembargo können sie sich auch aufgrund massiven Widerstands der Bundesregierung aber nicht einigen. Das Statement und die Mahnungen der EU-Mitgliedsstaaten bringen nichts: Erdogan lässt sich nicht von seinem “Kampf gegen den Terrorismus” abbringen und droht der EU mit dem Platzen des EU-Türkei-Deals. Die EU ist erpressbar geworden.

Der lachende Dritte: Russland

Der Rückzug der USA zwang den einstigen kurdischen Verbündeten in die Arme des Assad-Regimes. Dessen Machtzunahme nutzt auch dessen Schutzmacht: Russland kann sich nun als die verlässliche Großmacht darstellen, die sich auf Seite der kurdischen Kräfte gegen den IS und den Invasor Türkei stellen. Sie zieht die Strippen und hält dabei die Fronten zwischen den syrischen und türkischen Truppen auseinander. An einer direkten Konfrontation beider “Partner” ist Putin nicht interessiert.

Und jetzt?

Eine gute Woche nach dem Start der Offensive kommt am Donnerstag, 17. Oktober, die überraschende Nachricht: Die Türkei verabredet mit US-Außenminister Mike Pence eine fünftägige Waffenruhe. Die Bedingung: Die SDF muss sich auf 30 Kilometer von der gesamten Grenzlinie zurückziehen. Danach stimmt Erdogan dem Ende der Offensive zu, bleibt aber bei seinem Vorhaben eine sogenannte Sicherheitszone einzurichten. Bereits am Freitag Morgen jedoch finden wieder Kämpfe um Sere Kaniye/Ras Al-Ain und Ain Aissa statt. Sogar Krankenwagen, die Verwundete versorgen möchten, werden beschossen. Wie es weitergeht in Nordost-Syrien ist ungewiss. 

*Auch Ali heißt in Wirklichkeit anders. Wir haben, auf seinen eigenen Wunsch hin, seinen Namen geändert, da er Angst vor staatlicher Repression und Verfolgung hat.

Auch für unseren Projektpartner Ali ist vieles noch unklar: ”Wir haben so viele Menschen erreicht mit unserer Arbeit, so viele Jugendliche auf deren Denken wir wirken konnten. Das soll vorbei sein? Die Arbeit in der Zivilgesellschaft ist zu meinem Zuhause geworden. Als ich heute unser Center verlassen habe, hat sich das schrecklich angefühlt. Derzeit leben wir im Zustand von Eventualitäten, wir wissen einfach nicht, was passieren wird, müssen aber auf alles gefasst sein.

Eines aber ist klar: Die großen Verlierer in diesem geopolitischem Machtkampf sind die Kurden und die Zivilgesellschaft.