Noch immer ist Razan Zeitouneh offline – Reem Zeitouneh

Mehr als zehn Monate sind bereits vergangen: Razan Zeitounehs Onlinestatus wird jedoch immer noch als rot angezeigt! Es war nicht einfach für mich, Razans Verschwinden hinzunehmen; ich konnte es nicht glauben, ich wollte es einfach nicht glauben. Allein die Vorstellung, dass Razan ausgerechnet in Douma inmitten der östlichen Ghouta nahe Damaskus verschwand – entführt durch […]

Mehr als zehn Monate sind bereits vergangen: Razan Zeitounehs Onlinestatus wird jedoch immer noch als rot angezeigt! Es war nicht einfach für mich, Razans Verschwinden hinzunehmen; ich konnte es nicht glauben, ich wollte es einfach nicht glauben. Allein die Vorstellung, dass Razan ausgerechnet in Douma inmitten der östlichen Ghouta nahe Damaskus verschwand – entführt durch diejenigen, die sie immer zu verteidigen bereit war –, schockierte mich zutiefst. Seitdem warte ich auf Razans Anruf und den Klang ihrer Stimme; darauf, dass sie mir sagt, alles sei in Ordnung. Leider ist dies bis heute nicht geschehen.

Als sie das erste Mal bedroht wurde, schwieg Razan mir gegenüber aus Angst, dass ich sofort unsere Eltern informieren würde. Jedoch gab mir ein enger Freund Bescheid. Daraufhin forderte ich sie auf, ihren Standort zu wechseln oder gleich ganz das Land zu verlassen. Wenig überraschend weigerte sie sich. Sie sagte mir, dass Drohungen sie niemals einschüchtern werden: „Syrien ist meine Heimat; das Land, das ich liebe. Angst soll mich niemals dazu bringen, das aufzugeben, was ich liebe.“

Die syrische Menschenrechtlerin Razan Zeitouneh, die im Dezember 2013 entführt wurde. (c) Razan Zeitouneh.
Die syrische Menschenrechtlerin Razan Zeitouneh, die im Dezember 2013 entführt wurde. (c) Razan Zeitouneh.

Ich habe niemals über den Mut verfügt, den Razan an den Tag legt. Ebenso besitze ich nicht jenes revolutionäre Herz wie Razan bezüglich all der Missstände in unserem Land. Genauso wenig habe ich ihren Willen, das festzuhalten und zu analysieren, was um uns herum geschieht.

Seit meiner frühen Kindheit hat Razan mich immer mit ihrer Fähigkeit überrascht, auf all meine Fragen und Träumereien Antworten zu wissen. Ihre Neugier und ihr schier endloses Wissen waren in einer so konservativ-traditionellen Gesellschaft wie der unseren schlicht bemerkenswert.

Ich kann mich an keinen Tag in unserem gemeinsamen Zimmer erinnern, an dem ich nicht aufwachte oder einschlief, während Razan Seite für Seite ihre Bücher verschlang. Eine Zeit lang beschwerte ich mich über jene Lampe genau über meinem Kopf, die Razan unentwegt benötigte, um zu lesen.

Da Razan mich in meiner Kindheit meistens zu Veranstaltungen mitgenommen hatte, begleitete ich sie auch als Erwachsene zu zahlreichen Sit-Ins, die sie seit unzähligen Jahren besuchte. Einige dieser Events waren Protestveranstaltungen für Palästina, den Irak oder ähnliche Sachverhalte. In einem dieser Sit-Ins traf Razan auf ihren späteren Ehemann Wael, der ebenfalls Aktivist ist und 2013 mit ihr zusammen entführt werden sollte. Razan war vor allem stark an jenen Aktivitäten beteiligt, die später als „Damaszener Frühling [von 2011]“ bekannt werden sollten. Jener „Damaszener Frühling“, den ich ebenso als den „Frühling von Razan“ empfand.

Schon vor der Revolution war Razan auch journalistisch tätig. Bereits während ihres Jurastudiums thematisierte sie in Veröffentlichungen viele der akuten sozialen Fragen Syriens. Dabei schonte sie weder Zeit noch Anstrengung, um Gerechtigkeit und die Gleichheit aller einzufordern.

Meine Schwester schrieb jedoch nicht aus dem Drang nach Ruhm oder Anerkennung; sie wollte sich nicht auf den Covern irgendwelcher Zeitschriften wiederfinden. Razan war eine ambitionierte und aufopferungsvolle Aktivistin, die Lösungen für die ihr wichtigen Themen anstrebte. Jene Themen, die sie in ihren Veröffentlichungen aufgriff.

Razan konzentrierte sich besonders auf die Belange von Frauen und Kindern, deren Rechte und drängende Nöte. Sie nahm persönlich Anteil an den Lebensbedingungen von Frauen und Kindern und besuchte regelmäßig Zentren und Einrichtungen. So oft sie auch in der Lage gewesen sein mag, nicht entscheidend helfen zu können, wollte Razan niemals jemanden ignorieren. Sie beharrte stets: „Wenigstens kann ich ihnen zuhören.“

Direkt nach Abschluss des Jurastudiums verfolgte Razan ihr juristisches Engagement im Referendariat weiter. Während dieser Zeit besuchte ich Razan regelmäßig in ihrem Büro in einer der Menschenrechtsorganisationen Syriens, wo sie ihre praktische juristische Ausbildung erhielt. Dort sah ich Razan am Schreibtisch sitzen, vertieft in ihre Arbeit zu syrischen Gefangenen.

Ohne Unterschiede zu machen, verteidigte Razan politische Gefangene sämtlicher politischer Ausrichtungen und Hintergründe. Sie interessierte sich zudem für die Familien und Bekannten der Inhaftierten und baute zu ihnen allen gute Beziehungen auf. Razan unterstützte die Angehörigen in ihrer schwierigen Lage und verstand sich selbst als Mitglied dieser Familien. Ich war sehr stolz, dass die Menschen Razan und ihre Arbeit schätzten. Derzeit versuchen Razans EntführerInnen, sie und ihre ebenfalls entführten KollegInnen zum Schweigen zu bringen, damit deren politisches Anliegen verstummen möge.

Deshalb wende ich mich hier in nur wenigen Worten an die EntführerInnen – wer auch immer und wo auch immer sie sein mögen: „Wir werden nicht aufgeben und nicht verzweifeln. Falls ihr denkt, dass ihr Razan durch die Entführung zum Schweigen bringen könnt, solltet ihr wissen, dass wir bereits denselben Weg wie Razan eingeschlagen haben.“

Dadurch ist Razans politisches wie zivilgesellschaftliches Erbe mehr als bewahrt. All die Bemühungen ihrer FreundInnen sind in Syriens zivilgesellschaftliches Gedächtnis eingebrannt.

Von ihren MitrevolutionärInnen wurde Razan einst als “Dame der Revolution” sowie der “Jasmin von Damaskus” bezeichnet. Vielleicht verdient Razan diese Titel, vielleicht verdient sie sogar mehr als diese. In jedem Fall verdienen Razan und ihre KollegInnen die Freiheit!

Gebt sie uns zurück! Razan ist nicht nur unsere Tochter und Schwester, sie ist auch das Symbol unserer Revolution.

Freiheit für Razan, Nazem, Wael und Samira, wie auch Freiheit für alle Gefangenen Syriens. Freiheit für unser inhaftiertes Syrien!

Seit Ende 2011 arbeitet Adopt a Revolution eng mit dem Aktivisten-Netzwerk der Local Coordination Committees (LCC) zusammen, das von Razan koordiniert wurde. Entsprechend entsetzt sind wir über ihre Entführung, ausgerechnet an dem Tag, als wir einen ihrer Berichte in unserer Zeitung veröffentlichten. Wir vermissen Razan – und arbeiten trotzdem weiter daran, die junge syrische Zivilgesellschaft zu stärken. Helfen Sie mit!

Jetzt für Syrien spenden!

Am 27. November wird das Violations Documentation Center VDC, das von Razan gegründet wurde, in Berlin mit dem Petra-Kelly-Preis ausgezeichnet. Die Preisverleihung findet in den Räumen der Heinrich-Böll-Stiftung statt.

Dieser Text über die entführte syrische Menschenrechtlerin und Aktivistin Razan Zeitouneh erschien im arabischen Original am 31.10.2014 auf der Website „Huna Sautak„. Verfasst wurde der Beitrag von Razans Schwester Reem Zeitouneh, die ebenfalls als Aktivistin tätig ist. Der vorliegende Beitrag ist eine Übersetzung durch Adopt a Revolution. Der Artikel ist auf unserem Blog ebenfalls auf Englisch verfügbar.