Pater Paolo ermordet?, das vergessene Leid der PalästinenserInnen, Jihadis in westlichen Medien, Capoeira in Raqqa – Netzschau 05. August

Die NGO Matar setzt sich in Syrien für die Belange von Frauen und Kindern ein. Um finanzielle Möglichkeiten für Witwen zu schaffen, bildet Matar syrische Frauen in Handarbeit aus. Die von ihnen produzierten Güter kann man im Onlineshop erwerben, die wunderschönen Artikel scheinen gefragt. Die Zeitung Enab Baladi berichtet online über die NGO Hourrass (arab.: “Beschützer”), […]

Die NGO Matar setzt sich in Syrien für die Belange von Frauen und Kindern ein. Um finanzielle Möglichkeiten für Witwen zu schaffen, bildet Matar syrische Frauen in Handarbeit aus. Die von ihnen produzierten Güter kann man im Onlineshop erwerben, die wunderschönen Artikel scheinen gefragt. Die Zeitung Enab Baladi berichtet online über die NGO Hourrass (arab.: “Beschützer”), die sich für den Schutz von Kindern und deren psychosoziale Unterstützung einsetzt. Enab Baladi und Hourrass geben zusammen das wöchentliche Magazin “Tayara waraq” (Papierdrache) heraus, das Kindern Zerstreuung und Weiterbildung bietet.

Westliche Journalisten sind seit längerem bemüht, DIE Story über (westliche) Jihadi-KämpferInnen in Syrien zu landen. Aktuell kann man z.B. Hannah Lucinda Smith’ Geschichte “I ate ice cream with a(n Iraqi) member of al Qaeda in Syria (ISIS)” (VICE) lesen, die wenig Substantielles zu Syrien enthält. Alternativ bietet sich der Text “Blue-eyed Jihad” bei Foreign Policy an, in dem zwei westliche Jihadis zu Wort kommen.

Seit einigen Tagen gilt der italienische Jesuitenpater Paolo Dall’Oglio in Syrien als vermisst (Wall Street Journal). Sicher ist, dass er sich in der von Assads Truppen befreiten Stadt Raqqa im Osten Syriens aufhielt. Dort ist der Al-Qaida-Ableger ISIS (“Islamischer Staat in Irak & Syrien”) aktiv, mit dessen Anhängern sich Pater Paolo wohl freiwillig traf. Es ist unklar, ob er sich weiterhin freiwillig bei ISIS aufhält oder als Geisel gehalten wird. Gerüchte besagen seit Samstag, dass Pater Paolo von ISIS umgebracht wurde. Pater Paolo hat sich seit Beginn für die syrische Revolution stark gemacht – sosehr, dass er im Sommer 2012 vom syrischen Regime des Landes verwiesen wurde -, was ein klarer Kontrast zum “säkularen Regime & Minderheitenbeschützer”-Mythos darstellte, den das Regime seit März 2011 pflegt. Pater Paolo – von den AktivistInnen liebevoll “Abuna Paolo” (Unser Priester/Vater Paolo) genannt – lebte seit 1982 in Syrien, spricht fließend Arabisch und betrieb das interkonfessionell-orientierte Deir (Kloster) Mar Musa nördlich von Damaskus. Der Dialog zwischen Christen und Muslimen lag Pater Paolo am Herzen. Für den christlichen Filmemacher Bassel Shahade hielt Pater Paolo im Juni 2012 eine Trauerfeier ab, nachdem die eigentliche Trauerfeier in Damaskus vom Regime unterbunden wurde. Pater Paolo kehrte nach seiner Ausweisung mehrmals in die befreiten Gebiete Syriens zurück, da das Land ihm Heimat geworden war.

In Raqqa wehren sich Einwohner gegen die Entführungen oppositioneller AktivistInnen, die v.a. Gruppen wie ISIS angelastet werden. Neben Pater Paolo gilt u.a. auch der Bruder des Oppositionellen Yassin al-Haj Saleh bereits seit Wochen als vermisst. Hier sind Plakate zu sehen, die nach dem Verbleib Pater Paolos fragen. Bereits den dritten Tag in Folge kam es am Sonntag in Raqqa zu Protesten von AktivistInnen gegen die Entführungen. Ein Poster besagt: “Entführungen sind ein Mittel des Regimes, nicht der Revolutionäre.”

Der syrische Künstler Wissam Al Jazairy veröffentlicht auf seiner Facebook-Seite regelmäßig bearbeitete Fotos und Kunstwerke zu Syrien. Kürzlich erschien ein Foto Bassel Shahades, dem Flügel hinzugefügt wurden – Bassel als “Angel of freedom”. Al Jazairy erinnert aktuell auch an den bekannten Künstler Yousef Abdelke, der vor Wochen vom Regime verhaftet wurde. Hier finden sich einige Werke und Infos über Abdalkes Vita.

Fast nichts dringt aus Syrien über das Leid der syrischen PalästinenserInnen in die Welt. Daher haben palästinensische AktivistInnen aus allen 13 Camps in Syrien die letzte Ramadanwoche (ab dem 01.08.) Breaking the Silence getauft. Jeder Tag steht unter einem besonderen Motto; erinnert u.a. an die 2.500 Todesopfer, die 15.000 Inhaftierten in Regimegefängnissen, die Zerstörung der palästinensischen Camps und die daraus resultierende Flucht von mehr als 80% der Einwohner. PalästinenserInnen sind in Syrien massenhaft auf der Flucht oder in einigen Camps, u.a. auch dem größten Camp (Yarmouk/Damaskus), umlagert und eingeschlossen. Die AktivistInnen hoffen, mehr Gehör für das Leiden der PalästinenserInnen in Syrien zu erhalten. Was klar wird: Die syrische Revolution sehen die syrischen PalästinenserInnen auch als ihren Konflikt. Daher fordern Unterstützer der Aktion: “We who claim to support the Syrian Revolution and the struggle of the Syrian people,  must also stand with  our Palestinian brothers and sisters, and respond to their call of Breaking the Silence.  They have suffered with us under the iron-fist rule of the Ba’athist regime in Syria, and have stood steadfast by us. Their struggle is our struggle. And we can never forget: واحد واحد فلسطيني سوري واحد! (‘PalästinenserInnen und SyrerInnen sind eins!’)”

In Syrien gibt es trotz allen Leids jedoch weiterhin Lebensfreude. Raniah Salloum (SPON) berichtet über Capoeira-Unterricht für syrische Flüchtlingskinder in der Stadt Raqqa. Capoeira ist nicht ganz neu in Syrien. Der Deutsch-Syrer Tarek Alsaleh brachte Capoeira nach Damaskus mit und gründete die NGO “Bidna Capoeira” (arab.: “Wir wollen Capoeira”). Irakischen und palästinensischen Flüchtlingskindern wurde seit 2007 anhand von Capoeirastunden neuer Lebensmut vermittelt – eine willkommene Abwechslung zum tristen Flüchtlingsalltag (hier ein schönes Video von 2011). Die NGO ist in London registriert, was nun großes Glück ist: Bidna Capoeira kann über verschlungene Wege weiterhin in Syrien Hilfe leisten. In Palästina ist die NGO auch aktiv, in Jordanien & Libanon sollen Projekte für syrische Flüchtlingskinder starten. Alsaleh hofft hierfür auf Spenden.

Ein skurriles Verbrechen ereignete sich vor Wochen im Libanon: Mohammad Darrar Jammo, der häufig als Assad-treuer Journalist auftrat, wurde in seinem Haus in Südlibanon von Angreifern erschossen (NYT). Der klare Verdacht galt oppositionellen syrischen Kräften, da der Syrer Darrar Jammo neben Assad auch die libanesische Hisbollah verteidigte. Diese hat ihre Hochburgen im Südlibanon und kämpft offen an Assads Seite in Syrien. Doch schnell stellte sich heraus: Nicht der syrische Konflikt, sondern familiäre Motive steckten hinter dem Mord. Die libanesische Witwe Jammos hatte ihren Bruder und Neffen beauftragt, den Mann zu ermorden.

Weitere Meldungen: Wie die taz berichtet, wurden bei einem Luftschlag der syrischen Armee 9 syrische Flüchtlinge im Libanon getötet. Dies ist bei weitem nicht der erste Luftschlag innerhalb des Libanon, jedoch in den Opferzahlen der bislang schwerste. Die syrische Armee verteidigt ihre Aktionen mit der Verfolgung von “Terroristen”. Der Vorfall zeigt erneut, wie verletzlich syrische Flüchtlinge auch in den Nachbarländern sind.

Deutschland stockt laut Entwicklungsminister Niebel die Hilfen für syrische Flüchtlinge um 20 Millionen Euro auf. Dies erhöht den Hilfsbetrag Deutschlands auf insgesamt 170 Millionen Euro. Das Geld soll UN-Hilfswerken und dem Libanon zukommen, der von der Flüchtlingskrise besonders betroffen ist (SZ). Mittlerweile sind fast 1,9 Millionen SyrerInnen als Flüchtlinge registiert (UNHCR) – 670.ooo allein im Libanon!

RIA Novosti berichtet, dass Assad fortan sämtliche Transaktionen in Devisen verboten hat. Nur noch das syrische Pfund dürfe benutzt werden, sonst drohen bis zu drei Jahre Haft oder Geldstrafen. RIA Novosti kommentiert: “Die örtlichen Beobachter führen diese Maßnahme auf die Umstellung der Wirtschaft auf die Erfordernisse des Krieges und auf eine Verhärtung des Kampfes gegen Kriminalität zurück.” In den vergangenen Wochen war das syrische Pfund zum Dollar enorm gesunken, z.T. auf einen Schwarzmarkt-Kurs bis zu 400 Lira/Dollar – zum Vergleich: 2011 lag das Pfund noch bei einem Kurs von 45 zu einem Dollar. Dieser rapide Währungsverfall lässt die Preise in Syrien galoppieren und macht das tägliche Leben gerade für Arme zu einem Überlebenskampf.

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