Syrische Schutzsuchende sollen das Land verlassen, zur Not mit Gewalt: In der Türkei eskaliert der Hass.

Pogromartige Zustände gegen Syrer*innen in der Türkei

Die Situation für in der Türkei lebende Syrer*innen gerät außer Kontrolle – nicht nur in Kayseri, wo die Hetzjagden ihren Ursprung nahmen, sondern auch in anderen türkischen Städten. Auch Partner*innen von uns sind betroffen. Die größte Angst bei all der Gewalt sind Abschiebungen nach Syrien.

Syrische Schutzsuchende sollen das Land verlassen, zur Not mit Gewalt: In der Türkei eskaliert der Hass.

Häuser sowie syrische Einrichtung und Läden wurden verwüstet und in Brand gesetzt, Autos mit Steinen beworfen und syrische Menschen durch die Straßen gejagt. Wen der Mob zu fassen bekam, wurde verprügelt. Es sind nicht die ersten größeren und gewaltsamen Übergriffe auf schutzsuchende Syrer*innen in der Türkei, meist beginnen sie mit einem Gerücht. Dieses Mal war den Angriffen die Festnahme eines Mannes vorausgegangen. Es stehen Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs eines Mädchens im Raum, deren Wahrheitsgehalt bislang unklar sind. Sicher ist aber: Es war der zündende Funke, der dazu führt, dass die Wut und der Frust der türkischen Bevölkerung über die schlechte wirtschaftliche Lage sich ein weiteres Mal an den Schwächeren der Gesellschaft entlädt.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan verurteilte zwar die Gewalt in Kayseri: „Es ist inakzeptabel, Häuser anzuzünden, Vandalismus zu betreiben und Straßen in Brand zu setzen.“ Allerdings ist er einer der obersten Brandstifter, der in den vergangenen Jahren die Stimmung gegen syrische Schutzsuchende proaktiv angefacht hat, um von seinem eigenen politischen Versagen abzulenken. Die Türkei steckt wirtschaftlich in einer tiefen Krise und ist gebeutelt von einer hohen Inflation. Aber auch die Opposition hat flüchtlingsfeindliche Stimmungen verstärkt, besonders bei den Parlamentswahlen letztes Jahr. Hass und Hetze verfangen in der unzufriedenen türkischen Bevölkerung.

Es kann jetzt jederzeit jede*n treffen

Die Übergriffe auf syrische Mitbürger*innen beschränken sich nicht nur auf Kayseri, auch in anderen türkischen Städten werden Syrer*innen angegriffen. In Antalya wurden neun syrische Arbeiter von einem rassistischen Mob angegriffen und verletzt. Ein 17 Jähriger wurde sogar bei einem Messerangriff von türkischen Jugendlichen getötet. Auf dem Mittwochbasar in Reyhanlı zündeten Angreifer syrische Stände an. Ähnliche Vorfälle ereigneten sich auch in Urfa und Maraş. In Chatgruppen koordinieren sich die Gruppen und verabreden sich, um Syrer*innen zu jagen.

„Syrer raus“ und „Wir wollen keine Syrer mehr, wir wollen keine Flüchtlinge mehr“ hallt dabei laut durch die Straßen. Dabei passiert schon längst, was die Menschen fordern: Bereits in den vergangenen Monaten hat die Türkei in großem Maße illegal nach Syrien abgeschoben. Seit Sonntag hat sich die Situation weiter verschärft, insbesondere in Gaziantep, Urfa, Kahramanmaraş und Kilis. Dort führt das türkische Einwanderungsministerium derzeit eine Kampagne gegen sogenannte illegale Einwanderer durch. Bisher wurden hauptsächlich Männer ohne Arbeitserlaubnis oder, wenn sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren, ins Visier genommen und abgeschoben. Jetzt werden auch Frauen auf der Straße kontrolliert.

Angst und Isolation wie zu Corona-Zeiten

Das ist auch für Partner*innen von uns ein großes Problem. Teile ihrer Teams haben Syrien aufgrund von Verfolgung verlassen und wiegten sich in der Türkei in vermeintlicher Sicherheit. Von dort koordinieren sie die Arbeit in Syrien und unterstützen ihre Kolleg*innen, die vor Ort verblieben sind. Doch aktuell können sie nicht in ihre Büros, weil auch sie keine offizielle Arbeitserlaubnis besitzen. Viele Syrer*innen, die arbeiten oder beispielsweise kleine Läden betreiben, können keine Arbeitserlaubnis beantragen. Das Problem ist von der Türkei gewollt, denn sie hat die Genfer Flüchtlingskonvention nie vollumfänglich anerkannt. Sie gewährt höchstens einen „vorübergehenden Schutz“, der aber nicht automatisch eine Arbeitserlaubnis inkludiert. Die Gewährung oder Aktualisierung des vorübergehenden Schutzes ist äußerst kompliziert und manchmal nicht möglich. Außerdem sind die Betroffenendazu verpflichtet, sich in der Provinz aufzuhalten, in der sie registriert sind. Viele können sich dort aber nicht ihren Lebensunterhalt sichern und ziehen in größere Städte, wo sie meist “schwarz” arbeiten. Die großen Schwierigkeiten bei der Erlangung von Arbeitserlaubnissen zwingen Syrer dazu, illegal zu arbeiten, was sie anfällig für Ausbeutung macht.

Auch wer auf der Straße angetroffen wird und seine Kimlik, also seine Identitätskarte für vorübergehenden Schutz, nicht dabei hat, wird unmittelbar ins Abschiebezentrum geschickt. Die Menschen haben Angst und versuchen zu Hause zu bleiben. Viele sind in den letzten Tagen weder arbeiten oder einkaufen gegangen. Für unsere Partner*innen in Gaziantep fühlt es sich an, wie während der Hochphase der Corona-Pandemie: Unfähig das Haus zu verlassen, weil draußen die Gefahr lauert.


Lesen Sie hier, welche Reaktionen die Ausschreitungen gegen Syrer*innen in der Türkei in Nordsyrien hervorrufen: Nordsyrien am Siedepunkt