Auf den Willkommenssommer 2015 folgte innerhalb kürzester Zeit die Erfindung der bedrohten Republik, die von den Medien gepusht auch konkrete politische Folgen nach sich zog. Abwehr statt Aufnahme war das “neue” Credo, das unter anderem mit einer Verschärfung des Asylrechts einherging. Auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) änderte seine Praxis: Schutzsuchende Syrer*innen bekamen mehrheitlich nicht mehr den Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), sondern einen subsidiären Schutzstatus erteilt.
2015 erhielten noch über 95 Prozent der nach Deutschland geflohenen Syrer*innen einen GFK-Schutz, 2016 waren es nur noch knapp 50 Prozent. Die Zahl der subsidiär Geschützten stieg entsprechend sprunghaft an – von 61 (2015) auf über 120.000 Personen (2016). Derzeit sind von den 834.000 Geflüchteten aus Syrien rund 40 Prozent als Flüchtlinge oder Asylberechtigte anerkannt, etwa ein Viertel hat einen subsidiären Schutzstatus und etwa 200.000 reisten mit einem Visum nach Deutschland ein.
Die Unterschiede zwischen den beiden Schutzstatus sind auf den ersten Blick marginal: Beide sind internationale Schutztitel, die vor Abschiebung schützen und einen identischen Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu Integrationskursen gewähren. Gravierend ist jedoch, dass für subsidiär Schutzberechtigte ein Familiennachzug kaum möglich ist.
Ein weiterer Unterschied ist auch die Länge der Aufenthaltserlaubnis: Beim vollen Schutzstatus nach der GFK (oder Anerkennung als Asylberechtigte nach dem Grundgesetz) gilt eine Frist von drei Jahren, bei subsidiär Geschützten lediglich von einem Jahr. Wenn sich die Bedrohungslage im Herkunftsland in dieser Zeit nicht verbessert, wird die Aufenthaltserlaubnis für weitere zwei Jahre (subsidiäre) bzw. drei Jahre (voll Schutzberechtigte) verlängert. Besonders brisant ist auch, dass subsidiär Schutzberechtige keinen Anspruch auf die Erteilung eines Reisepasses für Flüchtlinge (GFK-Pass) haben, also einen Passersatz.
Passpflicht – Kooperation mit dem Verfolgerstaat
Was sich zuerst wie eine bürokratische Kleinigkeit anhört, stellt vor Krieg und Verfolgung Geflohene vor enorme Probleme. Denn: In Deutschland dürfen sich Personen mit ausländischer Staatsbürgerschaft nur aufhalten, wenn sie einen anerkannten und gültigen Pass oder Passersatz besitzen. Davon ausgenommen sind beispielsweise anerkannte Flüchtlinge, weil es dieser Personengruppe nicht zumutbar ist, mit ihrem Verfolgerstaat zu kooperieren. Tatsächlich können anerkannte Flüchtlinge beim Betreten der syrischen Botschaft ihren Aufenthaltsstatus in Deutschland sogar verlieren.
Die meisten anderen Gruppen werden regelmäßig zur Passbeschaffung aufgefordert. Dabei wird völlig ausgeblendet, dass auch subsidiär Schutzberechtigte und Personen, die über den Familiennachzug nach Deutschland gekommen sind, vom Assad-Regime verfolgt werden. Menschen, die aus Syrien geflohen sind, erwartet bei ihrer Rückkehr willkürliche Verfolgung, Haft oder Verschwindenlassen. Trotzdem geht der deutsche Staat davon aus, dass es der Mehrheit der syrischen Geflüchteten zuzumuten sei, die syrische Botschaft zu betreten, dort sensible Daten wie Namen, Adresse und teilweise Telefonnummer an den syrischen Geheimdienst abzugeben und Hunderte Euro an den eigenen Verfolgerstaat zu bezahlen.
Mittlerweile sind sogar anerkannte Flüchtlinge nicht mehr sicher vor einem Botschaftsbesuch. Denn durch eine Praxisänderung im vergangenen Jahr durch den damaligen Bundesinnenminister Horst Seehofer wird auch diese Personengruppe zur Passbeschaffung aufgefordert. Nämlich dann, wenn sie eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis oder die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen wollen. Aus einer aktuellen Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Partei die Linke geht hervor, dass circa 230.000 anerkannte Flüchtlinge aus Syrien keinen syrischen Reisepass besitzen. Entsprechend wird auch diese Personengruppe früher oder später zur syrischen Botschaft gehen müssen, obwohl es ihnen rechtlich eigentlich weder zumutbar noch erlaubt ist. Warum hält die Bundesregierung trotz allem an der Passbeschaffungspflicht fest?
Identität läuft nicht ab
Das Hauptargument: Der Pass werde zur Identitätsklärung benötigt. Dabei ist zum einen der Reisepass keineswegs die einzige Möglichkeit zur Identitätsklärung, wie das Bundesverwaltungsgericht bestätigt. Nach diesem Urteil müssen auch andere Dokumente für die Prüfung der Identität verwendet werden können.
Zum anderen wird die Identität von Schutzsuchenden zu mehreren Zeitpunkten während ihres Asylverfahrens geprüft. Ginge es rein um eine Klärung der Identität, könnte auch ein abgelaufener Reisepass herangezogen werden, denn Identität läuft nicht ab. Die Notwendigkeit, alle zwei Jahre einen neuen gültigen Pass zu beantragen, ist damit obsolet.
Es geht um Rückkehr
Die Sinnhaftigkeit dieser Behördenpraxis ist also mehr als fragwürdig und trotzdem sieht Bundesinnenministerin Nancy Faeser bislang keinen Grund zu handeln. Dahinter dürfte auch politisches Kalkül stecken, wie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Linken selbst offenbart: “Die Passpflicht hat für die Feststellung der Personenidentität, der Staatsangehörigkeit sowie der Rückkehrberechtigung eine wesentliche Bedeutung.”
Neben der Identitätsklärung geht es dem deutschen Staat also insbesondere auch um die Möglichkeit, Geflüchtete langfristig “rückführen” zu können. Die Logik dahinter: Sollte sich die Situation in Syrien irgendwann nach Ansicht der Bundesregierung “verbessern”, können Personen mit begrenztem Aufenthaltstitel nach dessen Ablauf grundsätzlich abgeschoben werden. Abschiebungen können aber nur durchgeführt werden, wenn die betroffene Person einen gültigen, aktuellen nationalen Reisepass besitzt. Wenn die Behörden aber schon jetzt auf den Besitz gültiger Reisepässe verzichten, könnte sich das zu einem späteren Zeitpunkt als großes Abschiebehindernis herausstellen.
Politische Bürokratie gegen Zuwanderung
Auch die Willkür in deutschen Behörden verhindert ein langfristiges Ankommen.
In unserer Umfrage unter Syrer*innen Anfang des Jahres zur Passbeschaffung haben wir viele Fälle dokumentiert, in denen Behörden subsidiär Schutzberechtigte zur Aufenthaltsverlängerung zur Passbeschaffung aufgefordert haben. Dabei dürfen die Behörden in diesem Fall einen syrischen Reisepass nicht als Voraussetzung für eine Aufenthaltsverlängerung einfordern. Eine Aufenthaltsverlängerung auf dieser Basis zu verwehren, ist sogar illegal! Und trotzdem scheint genau diese Praxis Alltag in deutschen Ausländerbehörden zu sein.
Wer beispielsweise seinen Aufenthaltstitel wegen des fehlenden Passes verliert, bekommt erstmal eine Fiktionsbescheinigung. Die muss alle drei Monate verlängert werden. Dieser kurze Zeitraum verspricht weder für Arbeitgeber, noch für Vermieter Sicherheit. Selbst wenn kein großer strategischer Masterplan hinter der Behördenpraxis steckte, werden die willkürlichen bis illegalen Entscheidung der Sachbearbeiter*innen in den deutschen Ausländer- und Einbürgerungsbehörden mindestens toleriert, wenn nicht sogar akzeptiert.
Durch das Beharren auf dem syrischen Reisepass als einziges Identitätsdokument verhindert die Bundesregierung außerdem, dass ein Teil der Syrer*innen einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland bekommen kann. Denn auch für die Niederlassungserlaubnis und die Einbürgerung brauchen sie einen gültigen Reisepass. Da sich aber viele aus nachvollziehbaren Gründen weigern, in Assads Botschaft zu gehen, bleibt ihnen die Chance darauf verwehrt.
Bürokratie als politisches Kalkül
Zusammenfassend lässt sich also sagen: Hinter der scheinbar rein bürokratischen Passpflicht verbirgt sich politisches Kalkül. Denn fest steht: Identität kann unabhängig von Reisepässen bewiesen werden und rechtfertigt weder die Tortur, durch die Geflüchtete aus Syrien dafür gehen müssen, noch die indirekte Finanzierung eines international sanktionierten autoritären Regimes. Kein Geld für den syrischen Folterstaat! #DefundAssad
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