Politische Ungleichheit als Revolutionskatalysator? -Netzschau vom 8. Dezember

Andreas Wimmer argumentiert in foreign affairs, dass viele politische Konflikte der vergangenen Jahre gezeigt hätten, dass nicht Vielfalt in einem Land per se, sondern politische Ungleichheit zu Konflikten führe. Er bezieht sich hier insbesondere auf den modernen Nationalstaat: “the spread of the like-over-like principle and the formation of nation-states have been driving forces behind civil […]

Andreas Wimmer argumentiert in foreign affairs, dass viele politische Konflikte der vergangenen Jahre gezeigt hätten, dass nicht Vielfalt in einem Land per se, sondern politische Ungleichheit zu Konflikten führe. Er bezieht sich hier insbesondere auf den modernen Nationalstaat: “the spread of the like-over-like principle and the formation of nation-states have been driving forces behind civil and interstate war”. Genau diese Tatsache fehle in den heutigen Diskussionen zu Konflikten – gerade auch beim Thema Syrien.

Enthauptungen und ein Netzwerk eigener Informanten würden al-Kaida dabei helfen, in Syrien Fuß zu fassen, schreibt Khaled Oweis für Reuters. Die Gruppierung “Islamic State in Iraq and the Levant” (ISIL, auch ISIS) werde immer stärker: Sie übernehme Versorgungslinien der anderen Rebellen und werde andererseits für viele von ihnen immer attraktiver. Die jetzige Politik von ISIS, Territorium zu halten und auf diesem ihre Macht zu konsolidieren, sei vor allem vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung aus Libyen zu verstehen. ISIS suche sich ein schwaches Ziel in der Stadt, besetze die Bäckerei und errichte Straßensperren, um so die Nahrungsmittelversogung und Bewegung zu kontrollieren.

Aron Lund bietet ein Portrait des kürzlich ermordeten Führers der oppositionellen Tawhid- Brigade, Abdel Kader Saleh. Dessen Tod hatte bei vielen große Trauer ausgelöst, insbesondere, da mit ihm erneut ein gemäßigter Rebellenkommandeur gezielt ausgelöscht wurde. Abdel Kader galt als charismatischer Führer. Politisch sei er zwar zum Islamisten geworden, der keinen Hehl daraus machte, dass er nach der Sharia-Gerichtsbarkeit in Syrien strebt. Ganz klar, so Lund, sei er aber nicht Teil des radikalen fundamentalistischen Lagers gewesen: Er habe nicht gegen Syriens Minderheiten geredet und wollte auch, dass Syriens Schicksal nur durch Wahlen bestimmt werde. Die Tawhid-Brigade gehöre zu einer der wichtigsten bewaffneten Gruppierungen im Norden Syriens; sie sei zwar islamistisch orientiert, aber nicht ideologisch. Für die Zukunft der wichtigen Brigade erwartet Lund interne Spaltungen, da nun eine zentrale vereinigende Figur fehle. Gerade jetzt, wo das Regime in Aleppo zunehmende Fortschritte zu verzeichnen hat, wirkt sich Abdel Kaders Tod ungünstig aus.

Obwohl die personellen und finanziellen Quellen sehr beschränkt seien, seien zivilgesellschaftliche Initiativen in Aleppo in den von der Opposition kontrollierten Gegenden entstanden, berichtet Jadaliyya. In diesen Gebieten leben ungefähr eine Million Menschen. Die Versorgung dieser Menschen stelle auch eine Probe dar, inwiefern die Opposition auf lange Sicht solche administrativen Aufgaben übernehmen könne, so die AutorInnen. Der neu gebildete Gemeinderat habe es geschafft, die Versorgung mit öffentlichen Diensten (Schulen, Müllabfuhr, Polizei, Wasser, Elektrizität) wieder herzustellen. Trotzdem fehle es an Fachpersonal. Zudem drohe dem Gemeinderat ständige Konkurrenz durch bewaffnete Gruppen, die eigene Autoritäten und Strukturen aufbauen wollen. Der Text beschreibt die Entwicklung des Rats seit seiner Gründung durch AktivistInnen der Protestbewegung 2012, die Einwirkung der politischen Opposition wie dem Syrian National Coalition und weist auch auf die Gefahren hin, welchen Mitglieder der zivilen Administration durch Gruppen wie ISIS ausgesetzt sind.

Eher wenig mediale Beachtung findet die humanitäre Situation in der Stadt Homs. Dort sind Viertel der Stadt seit bereits anderthalb Jahren unter Belagerung durch das Regime. Mit dem Einbruch des Winters gehört zu den täglichen Aufgaben vor allem Holzhacken, da Brennholz die einzig verbliebene Heizungsressource darstellt. Hierzu werden oft die kaputten Möbel aus zerstörten Häusern geholt.

Islamwissenschaftler Thomas Pierret erklärt, warum die Konfessionalisierung des syrischen Konflikts aus einer internen syrischen Dynamik und nicht einfach aus der Außenpolitik fremder Staaten hervorgeht. Dazu gehören die pro-alawitische Günstlingswirtschaft in Militär und Sicherheitskräften sowie die rücksichtslose Gewalt gegen Sunniten während der vergangenen zweieinhalb Jahre seitens des Regimes. Pierrets Hauptthese ist demnach, dass die zwei „konfessionellen Koalitionen“ – eine pro-Assad Shia-Achse sowie eine anti-Assad Sunni-Achse – nicht Grund, sondern Konsequenz der syrischen Krise seien: „The homogenous nature of these alignments is not a cause but rather a consequence of the Syrian crisis”. Saudi-Arabien, das einzige Land in der anti-Assad-Achse, welches auch vor 2011 bereits eine konfessionalistisch-geprägte Außenpolitik vertrat, sei in letzter Zeit sogar dazu übergegangen, vor allem gemäßigte Kräfte in der syrischen Opposition zu unterstützen. Dies sei insbesondere auf die wachsende Angst zurückzuführen, dass durch die Intensivierung des konfessionellen Narrativs in Syrien islamistischer Aktivismus im saudischen Inland stimuliert werden könnte.

In den vom Regime belagerten Gebieten regt sich weiterhin Widerstand. Im Camp Yarmuk fand etwa vergangene Woche ein Marathon unter dem Titel „Yarmuk, öffne deine Tore“ statt. Darüber hinaus kam es in den vergangenen Tagen zu Massendemonstrationen. Bei dem Versuch, friedlich auf die Wachposten am Ortseingang zuzumarschieren, kamen vier BewohnerInnen ums Leben. Am Abend wurde daraufhin ein Sitzstreik „derer mit dem leeren Darm“ organisiert. Eine Andeutung darauf, dass das Regime gewöhnliche Menschen, die nicht einmal mehr etwas zu essen haben, aushungert – keine bewaffneten Terroristen. Am vergangenen Sonntag gab es erneut eine Demonstration in dem Viertel. Symbolträchtig wurden diesmal leere Töpfe durch den Stadtteil getragen. In diesem Video halten die Demonstrierenden Plakate hoch mit dem Essen, was sie vermissen, oder auch, was sie nicht mehr sehen können: Linsen – das einzige Nahrungsmittel, was es noch im gesamten Viertel gibt.

In ihrem Aufsatz “The winding road between Damascus and Beirut” beschäftigt sich die syrische Literatin Dima Wannous mit der sich wandelnden syrischen Künstlerszene in Beirut. Aber auch mit dem sich nun verändernden Verhältnis von SyrerInnen zu der Stadt: Früher war Beirut ein Ort der Erholung, nun ist es der Zufluchtsort, zu dem es keine Alternative gibt. Mehr und mehr verschmelze die syrische mit der libanesischen Kulturszene in Beirut. Die Kunst selber verändere sich auch; der neuen syrischen Generation ginge es nicht mehr darum, Projekte zu machen, ihre Arbeiten seien nun größer als die eines Momentes: „It is now the project of a lifetime“.

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