Die Geschichte von schulpsychologischer Betreuung in Syrien ist noch sehr jung – erst 2000 hat das Ministerium für Erziehung Stellen für einen schulpsychologischen Dienst geschaffen. Damals habe ich direkt angefangen als Psychologin an einer Schule in Suwaida zu arbeiten und stand damit vor zahlreichen Herausforderungen: Der Beruf war noch nicht etabliert und das Verständnis der meisten Schuldirektor*innen für unsere Aufgabe war noch sehr gering. Oft eckte ich mit den Schuldirektor*innen an, die keine Wertschätzung für die wichtige psychologische Arbeit empfanden.
In vielen Schulen bekamen wir kein eigenes Arbeitszimmer, in dem wir die wichtige Betreuungsarbeit hätten durchführen können. Gleichzeitig erdrückte uns das Bildungsministerium mit Papierarbeit für jeden Fall, den wir betreuten. Dabei konnten wir tatsächlich kaum psychologische Arbeit leisten, denn die Direktor*innen haben uns lieber bürokratische Aufgaben wie das Erstellen von Anwesenheitslisten und die Verbreitung von Schulanweisungen zugeteilt. Damit erlebten uns viele Schüler*innen als Mitarbeiter*innen der Direktion, nicht aber als Vertrauensperson.
Überwachung statt Hilfe
Auch wenn die Schüler*innen sich mir hätten anvertrauen wollen, ihre Angst vor der Überwachung durch die Schulleitung war viel zu groß. Zu Recht, denn wenn wir mal in der psychologischen Betreuung arbeiten durften, verlangten die Direktor*innen die Herausgabe von Informationen über die betreffenden Schüler*innen. Auch der Staat hatte schnell die psychologische Betreuung als Instrument für sich entdeckt, um die Schüler*innen zu überwachen.
Weil ich es ablehnte, dass sich die Staatssicherheit in meine Belange mit den Schüler*innen einmischt, wurde ich schließlich disziplinarisch an eine andere Schule verwiesen – von der Oberstufe wechselte ich nun zur Strafe an zwei Grundschulen. In keiner der beiden Schulen bekam ich ein eigenes Behandlungszimmer – nicht mal ein Tisch und Stuhl wurden zur Verfügung gestellt. Wie hätte ich so arbeiten sollen? Ich beantrage also unbezahlten Urlaub, in dem ich bis heute bin.
Flucht nach vorn
Angesichts der ökonomischen Situation in Syrien war das eine sehr waghalsige Entscheidung. Ich hatte gerade vorher eine Weiterbildung im Bereich der Psychoanalyse gemacht, deshalb beschloss ich eine eigene Praxis zu eröffnen, in der ich neben Patient*innen vor allem auch wieder Schüler*innen behandeln wollte. Suwaida war zu diesem Zeitpunkt bereits ein Hotspot für die Aufnahme von Binnenvertriebenen. Viele von ihnen hatten Schreckliches erlebt und benötigten psychologischen Support. Und so begann ich mit geflüchteten Frauen zusammenzuarbeiten. Zwar ist meine ökonomische Situation immer noch sehr schlecht, dafür habe ich aber nun die Freiheit meinen Beruf ernsthaft ausführen zu können.
Die Menschen kommen freiwillig und voller Vertrauen in meine Praxis und haben das deutliche Bedürfnis behandelt zu werden – ganz anders als in der staatlichen Schule, wo mein Beruf zu einem weiteren Kontrollinstrument des Staates gegen seine Bürger*innen gemacht wurde und die psychologische Betreuung eher als Bestrafung statt als Unterstützung galt. Dennoch habe ich all die Jahre große Anstrengungen unternommen, um das Vertrauen der Schüler*innen zu gewinnen und eine Beziehung aufzubauen, aber immer wieder wurde ich zu Punkt Null zurückgeworfen. In meiner eigenen Praxis ist das anders. Hier habe ich einen Ort der freien Meinungsäußerung geschaffen und tatsächlich ist es das, was meine Patient*innen brauchen: Einen sicheren Ort, um über ihre Probleme zu sprechen – ohne konstante Selbstzensur.
Angst vor der Zukunft
Vor 2011 drehten sich die Probleme der Schüler*innen um die Schule und Familienbeziehungen, Fragen um Liebe und Sex, Fragen um ihr Abschneiden in der Schule und gesellschaftlichen Erfolg. In meiner Praxis sind die Probleme vielfältiger, da Menschen mit sehr unterschiedlichem Hintergrund und Alter zu mir kommen.
Mit Beginn der Revolution 2011 veränderten sich nicht nur die Themen, über die in meinen Sitzungen gesprochen wird, sondern auch die Intensität der Probleme: Seitdem dominiert die Angst vor der Zukunft. Viele der Patient*innen haben in den Jahren des Krieges den Mut und die Sinnhaftigkeit ihre Zukunft zu planen verloren – ihnen fehlt das Gefühl von Sicherheit. Sie sind depressiv, haben Schlaf- und Essstörungen, entwickeln Suchtprobleme. Zudem spielt die Frage nach sexueller Identität eine große Rolle und es besteht die Angst sexuell nicht mithalten zu können. Es gibt nun auch mehr Eheprobleme.
Viele meiner Patient*innen haben posttraumatische Belastungsstörungen. Sie versuchen mit ihren Problemen zu leben, verlieren aber zunehmend die Kontrolle darüber und geraten an den Punkt, an dem sie sie nicht mehr alleine bewältigen können. Entsprechend ist die Anzahl meiner Patient*innen in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen.
Im Krieg ist Hilfe nur begrenzt möglich
Und auch für uns Psycholog*innen ist die Arbeit während eines Krieges besonders herausfordernd. Wir hören viele schreckliche Geschichten, die auch auf uns einen traumatisierenden Effekt haben. Insbesondere weil wir selbst in dieser Realität leben und wir uns selbst in einem Überlebenskampf befinden und auch uns das andauernde Gefühl von Unsicherheit begleitet. Es ist schwer die Erlebnisse und Ängste unserer Patient*innen mit professioneller Distanz zu behandeln und von uns abzuspalten, weil sie Teil unserer eigenen Realität sind. Aber mein Verantwortungsgefühl und die Möglichkeit helfen zu können, lässt mich weitermachen.
Auch wenn ich weiß, dass ich manchmal leider nur bedingt helfen kennen. Denn: viele seelische und psychische Leiden sind nur heilbar, wenn sich auch die Umstände ändern – das ist bei uns in Syrien schwierig. Deshalb verspreche ich Hilfesuchenden nicht, dass ihnen eine Therapie helfen wird. Solange das System und die Lebensumstände so bleiben, wie sie sind, gibt es nur einen begrenzten Raum der Hilfe, aber diesen nutze ich aus.
Eine 11-jährige Patientin spendet Mut
Einmal hatte ich eine 11-jährige Patientin. Sie hatte ihren Vater bei einem IS-Angriff auf Suwaida verloren. Ihr Onkel brachte sie zu mir, weil sie keinerlei Reaktionen auf den Tod ihres Vaters zeigte und das Thema komplett verdrängte. Das Mädchen schien auf den ersten Blick ein ganz normales Kind zu sein: Sie sprach flüssig und klar. Sie erzählte mir Witze und berichtete von ihrem Alltag, was sie so gegessen hat und mit wem sie nachmittags gespielt hat. Während der Therapie malte sie oder spielte mit Knete. Es dauerte sehr lange, bis sie sich mir geöffnet hat und ihre Ängste und Gedanken teilte. Sie erzählte mir von ihren entsetzlichen nächtlichen Alpträumen und wie viel Energie sie aufwendete, um die Sehnsucht nach ihrem Vater vor den Augen ihrer Mutter zu verstecken, um sie zu schützen. Erst in meiner Praxis konnte sie endlich um ihren Vater weinen und die schönen Erinnerungen an ihn zulassen.
Nach einiger Zeit lernte sie auch zu Hause mit ihrer Mutter über den gewaltsamen Tod des Vaters zu sprechen und ihre Liebe für den Verstorbenen zum Ausdruck zu bringen. In einer der Sitzungen konnte sie schließlich sogar über die Details seiner Ermordung reden. Damit hatte sie nicht nur gelernt, den Verlust ihres Vaters zu akzeptieren, sondern auch anzuerkennen, dass sie ihn nie wieder sehen würde. An diesem Punkt verschwanden ihre Alpträume und sie konnte ihr Leben fortsetzen.
Wir machen weiter!
Die Geschichte des Mädchens und ihr unglaublich starker Lebenswille lassen auch mich optimistischer auf meine Arbeit und die Zukunft blicken. Es hat mir gezeigt, dass wir trotz unserer schweren Lebensumstände, denen wir nicht entfliehen können, lernen können damit umzugehen und zu leben. Eigentlich war es das 11-jährige Mädchen, das mir Zuversicht gab und damit geholfen hat, weiter als Therapeutin zu arbeiten. Denn der Satz, den ich am Ende jeder Sitzung sage, trägt die Bedeutung der Kontinuität: „Wir sehen uns dann in der nächsten Sitzung!“ Eine Kontinuität des Lebens und des offenen Horizonts.