Kulturelles aus Syrien, Regime macht mobil – steht die Armee vor dem Kollaps?, Ermittlungen in Aleppo – Netzschau 13. März

Um kulturelle Einblicke in Syrien vor/während der Revolution ging es beim ARTE-Themenabend „Syrien: Ein Land vor dem Kollaps“. Ein Film zeigte Aktivisten in Homs, u.a. den lokalen Helden Abdel Baset Sarout, einst Fußballspieler, dann Aktivist und später Kämpfer. Daneben gab es jedoch auch sehr interessante Filme über Frauen. „Lieder der Hoffnung, Lieder der Angst“ zeigt […]

Um kulturelle Einblicke in Syrien vor/während der Revolution ging es beim ARTE-Themenabend „Syrien: Ein Land vor dem Kollaps“. Ein Film zeigte Aktivisten in Homs, u.a. den lokalen Helden Abdel Baset Sarout, einst Fußballspieler, dann Aktivist und später Kämpfer. Daneben gab es jedoch auch sehr interessante Filme über Frauen. „Lieder der Hoffnung, Lieder der Angst“ zeigt eine junge Sängerin, die über ihre Rolle in der Revolution und Gesellschaft spricht. „Damaskus, mein erster Kuss“ dreht sich um die Freiheiten von Frauen und ihren Körpern in Syrien. Dieser Film wurde zwar vor der Revolution gedreht, gibt aber interessante Einblicke in die (weibliche) Gesellschaft. Sämtliche Filme sind noch eine Woche online verfügbar und sehr zu empfehlen. Online hat ARTE zudem versucht, die Rolle der Bilder in der syrischen Revolution einzuordnen.

Eindrücke über Syrien vermittelt auch der amerikanisch-syrische HipHop-Musiker Omar Offendum in seiner Präsentation (ab Minute 17) beim NPPF in Minneapolis. In einer einstündigen Mischung aus Vortrag und Musik geht er auch auf die syrische Geschichte, die Revolution und die aktuelle humanitäre Situation ein. Das Anschauen lohnt sich.

Die Facebook-Seite „Syrian Nonviolence Movement“ stellte kürzlich einige der syrischen Untergrundzeitungen vor, von denen es derzeit schon 49 im ganzen Land gibt. Dazu gehören u.a. Enab Baladi aus Daraya (von AaR unterstützt), Oxygen in Zabadani, Sendian in Lattakia, Graffiti im multireligiösen Masyaf sowie neuerdings Raman im kurdischen Kobani. Das Projekt Kayani stellt in kurzen Filmen die Arbeit von Enab Baladi und Oxygen vor.

Die staatliche Armee scheint Probleme zu haben, ausreichend Rekruten zu finden. Ein Indiz sind Verlautbarungen, die sowohl vom höchsten muslimischen Gremium des Landes als auch von Großmufti Hassoun verkündet wurden. Darin wird der Dienst in der Armee als religiöse und patriotische Pflicht angepriesen, um Syrien zu erhalten (vgl. SANA). SANA dementierte daraufhin, dass eine generelle Einrufung vorliege. Die NYT schreibt über Hassouns Ansprache, sie gleiche in den Motiven dem Aufruf zum Jihad – ein Widerspruch zu Assads ewiger Litanei, dass Syrien der letzte säkulare Staat der Region sei. Ähnlich sieht dies auch Syria Deeply in „A Fatwa to Defend Assad“.

Die NYT schreibt zudem, dass die syrische Armee nicht für einen asymmetrischen Krieg ausgelegt sei. Das Regime habe mittlerweile erkannt, dass es dem weitläufigen Vormarsch der Rebellen in der Fläche nichts entgegenzusetzen habe. Daher gehe es dem Regime nun darum, die großen Städte zu halten. So sei auch das fast kampflose Abtreten von Raqqa zu erklären. Obwohl die staatliche Armee besser ausgerüstet und organisiert sei als die FSA, würde sich bei der Truppe allmählich Demoralisierung breitmachen. Das Regime tritt die Bewachung von Checkpoints immer mehr an Milizen ab und fordert auch stärker die Anwohner auf, ihre Viertel selbst zu verteidigen. Der Appell von Hassoun sei wohl auch an Sunniten gedacht, allerdings könne bei denen kaum noch jemand erreicht werden – nach all den Bombardierungen. So gebe es auf Christen großen Druck, der Armee beizutreten. Viele junge Männer versuchten daher, sich ins Ausland abzusetzen oder hohe Summen für eine Befreiung vom Armeedienst zu zahlen. Diese Zahlungen seien mittlerweile eine finanzielle Lebensader des Regimes. Eine Gruppe namens „Free Alawite Youth“ rief derweil junge Alawiten auf, sich in die Türkei abzusetzen. Al-Jazeera berichtet ebenfalls über den Mangel neuer Soldaten, zudem verliere die Regierungsarmee täglich ca. 40 Soldaten im Kampf.

Am 29. Januar 2012 wurden im Fluss Qweiq in Aleppo mehr als 100 Männerleichen gefunden. Schon damals hieß es, diese seien Zivilisten aus Oppositionsgebieten gewesen und auf Regierungsseite umgebracht worden. Martin Chulov hat für den Guardian diesem Massaker nachgespürt und eine ausführliche Reportage samt Videos verfasst. Er hat vor Ort auch mit Angehörigen von Opfern gesprochen. Seine Reportage bietet ein rundes Bild über das Massaker und bestätigt die ersten Annahmen. Bei vielen der Angehörigen ist zudem der Hass auf das Regime noch angewachsen. Manche meinen, anstatt dass die Todesfälle sie abschreckten, würden sich nun ganze Familien aus Rache der FSA anschließen wollen. Dies ist ein weiteres trauriges Beispiel, wie man Zivilisten an die Waffen treiben kann.

Marcel Mettelsiefen hat für das ZDF ebenfalls den Leichen von Aleppo nachgespürt, denn nach wie vor werden im Fluss fast täglich Leichen gefunden. Sein Beitrag zeigt auch die Arbeit der Helfer, die die Leichen bergen, bestatten und auch eine Identifizierung und Dokumentation vornehmen. Im Anschluss an diesen Beitrag führte Marietta Slomka ein Interview mit Guido Westerwelle, in dem dieser sich hinter den üblichen Floskeln versteckte. Westerwelle fand den Beitrag zwar erschütternd, doch meinte, man solle sich nicht (nur) von Gefühlen leiten lassen.

Auf der humanitären Ebene sieht es weiterhin tragisch aus. „Save the Children“ stellte den Bericht „Childhood under Fire“ vor, nach dem 2 Millionen syrische Kinder Opfer der Not seien. Viele seien traumatisiert, hätten keine oder nur eine schlechte Unterkunft, viele Schulen seien zerstört (in Aleppo gehen aktuell nur 6% der Kinder zur Schule) und Kinder auch persönlich von Gewalt betroffen. Drei Viertel der befragten Kinder hätten Angehörige verloren. Ein Phänomen sei derzeit auch die frühe Verheiratung von Mädchen, um sie vor sexueller Gewalt zu schützen. Über die Lage von Frauen berichtet auch ABC. In Jordanien arbeiten immer mehr syrische Frauen in der Prostitution, z.T. gezwungenermaßen „freiwillig“, um ihre Familie zu unterstützen. Andere Frauen würden schlicht vom eigenen Ehemann oder der Familie in die Prostitution gezwungen oder verkauft. Selbst im Flüchtlingslager Zaatari gibt es Prostitution.

Auf internationaler Ebene hat der israelische Staatspräsident Peres die Arabische Liga zum (militärischen) Eingreifen in Syrien aufgefordert, wie u.a. der SPIEGEL berichtet. Israel ist besorgt wegen der chemischen Waffen in Syrien und einem möglichen Auseinanderbrechen des Staates. Neben den Sicherheitssorgen scheint der Fakt, dass in Syrien täglich Menschen sterben, Peres jedoch auch zu bestürzen. Der Guardian berichtet, dass Großbritannien über einen möglichen Alleingang in der Bewaffnung der Rebellen nachdenke. Möglich sei auch ein Veto gegen die Fortführung des EU-Waffenembargos im Mai.


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