Syrische Flüchtlinge in einem Lager im Libanon.

Warum die Rückkehr aus dem Libanon fast nie freiwillig ist

Angeblich herrscht im Libanon Aufbruchstimmung: Über 100.000 Syrer*innen sollen „freiwillig“ in ihre Heimat zurückgekehrt sein. Anlass für deutsche Politiker*innen laut über Abschiebungen nach Syrien nachzudenken. Wagt man aber einen genaueren Blick in den Libanon, zeigt sich ein ganz anderes Bild.

Syrische Flüchtlinge in einem Lager im Libanon.

Jeder fünfte im Libanon lebende Mensch ist ein Flüchtling. Gemessen an der einheimischen Bevölkerung beherbergt die Zedernrepublik damit weltweit die meisten Vertriebenen. In Summe sind das 1,5 Millionen Flüchtlinge allein aus Syrien – bei einer einheimischen Bevölkerung von etwas mehr als vier Millionen und einer Fläche von der Hälfte Hessens.

Die Situation hat unmittelbare Auswirkungen auf das Leben großer Bevölkerungsteile und stellt Gesellschaft und Wirtschaft vor enorme Herausforderungen. Die Bevölkerung leidet unter Einkommensverlusten, einer hohen Jugendarbeitslosigkeit sowie einem eingeschränkten Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen. Auch das Bildungssystem hat laut terre des hommes die Grenzen seiner Belastbarkeit erreicht. Die Lage ist für viele Libanes*innen schwierig, für die meisten Syrer*innen ist sie katastrophal.

Die internationalen Hilfen reichen offensichtlich nicht aus, um die Situation im Libanon zu bewältigen. Für syrische Geflüchtete ist das Land zudem meist eine Sackgasse: Die geschlossenen Grenzen der EU und vieler anderer Staaten verhindern das Ausweichen auf andere Länder. Der libanesische Staat versucht daher Geflüchtete zur Rückkehr nach Syrien zu bewegen – längst durch Mittel, die sich auch angesichts der schwierigen Lage des Landes nicht rechtfertigen lassen. Mittlerweile wird über zahlreiche Gewalttaten gegen syrische Geflüchtete und illegale Abschiebungen nach Syrien berichtet.

Ausgrenzung und erzwungene Armut als Druckmittel

Schon im Juli 2018 kündigte die libanesische Regierung an, willigen Syrer*innen die Rückkehr in ihre Heimat zu erleichtern. Zugleich hat der Staat Wege gefunden, die geflüchteten Menschen zu einer solch „freiwilligen“ Ausreise zu bewegen. Die Grundlagen dafür legte er schon zu Beginn der Krise im Jahr 2011: Bereits damals entschied sich die libanesische Regierung bewusst, keine staatlichen Quartiere für die aus Syrien geflüchteten Menschen einzurichten. Der Bau von festen Unterkünften wurde ihnen aus Angst vor einer dauerhaften Ansiedlung der Menschen verboten. Die Folge: Syrische Flüchtlinge sind bis heute gezwungen, in inoffiziellen Zeltlagern, provisorischen Kleinlagern oder auf der Straße zu leben. Nur wenige von ihnen können sich die Miete einer Wohnung leisten.

Denn: Der Arbeitsmarkt ist für Flüchtlinge kaum zugänglich. Es herrscht eine gesetzliche Beschränkung der Arbeitserlaubnis auf drei Bereiche: die Landwirtschaft, das Baugewerbe und das Gesundheitswesen.

Für zwei Drittel der Flüchtlinge ist der Weg zu legaler Arbeit in Gänze versperrt.

Amnesty International

Sie leben im Libanon ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung, denn bereits 2014 hatte die libanesische Regierung die Grenze für syrische Geflüchtete geschlossen. Ein halbes Jahr später untersagte sie dem UNHCR neue Registrierungen vorzunehmen – auch für bereits im Land lebende Flüchtlinge. Zudem kommt es immer wieder zu massiven Verzögerungen bei der Verlängerung von Aufenthaltsgenehmigungen durch die libanesischen Behörden.

Überlebenskampf statt Lebensperspektive

61%
der Flüchtlinge zwischen 15 und 24 Jahren sind nicht erwerbstätig.

Dadurch sind viele Flüchtlingskinder gezwungen ihre Familien zu unterstützen. Statt die Schulbank zu drücken, müssen sie auf Orangenplantagen oder in den Tabakfeldern arbeiten oder bettelnd auf der Straße das Überleben ihrer Familien sichern. Auch die Vereinten Nationen können aufgrund der dezentralen Lage der informellen Zeltsiedlungen, aber auch wegen mangelnder Gelder kaum für die Geflüchteten sorgen. Laut einer Studie des UNHCR mit UNICEF und WFP lebten bereits 2016 drei Viertel der syrischen Flüchtlingshaushalte unterhalb der Armutsgrenze – Tendenz steigend. Es gibt erhebliche Probleme bei der Nahrungsmittelversorgung, außerdem sind die Barrieren zu Gesundheitsleistungen für Geflüchtete sehr hoch. Die Folge ist ein Überlebenskampf unter katastrophalen Bedingungen unterhalb der Existenzminimums. Das ist politisches Kalkül: So hat die Regierung der UN nie ein volles Mandat zur Versorgung der syrischen Flüchtlinge erteilt.

Überfälle und Gewalt

Zusätzlichen Druck üben die Hisbollah und das libanesische Militär auf syrische Geflüchtete aus, damit diese das Land wieder verlassen. Die vom Iran finanzierte islamistische Terrororganisation Hisbollah hat im Libanon großen politischen Einfluss, in Syrien kämpft sie auf der Seite des Assad-Regimes. Von ihr geht große Gefahr für syrische Geflüchtete aus. Unangekündigte militärische Überfälle auf die Lager von Geflüchteten sind laut Amnesty International an der Tagesordnung. Darüber hinaus berichtet Amnesty International übereinstimmend mit Human Rights Watch von Folter und Misshandlungen. Beispielsweise starben im Sommer 2017 nach einer Razzia vier syrische Geflüchtete in libanesischer Haft.

Abriss von Flüchtlingslagern und Unterkünften

Der physische Druck erreicht derzeit eine neue Qualität. Bei Verstößen gegen bestehende Gesetze, die bisher kaum durchgesetzt wurden, wird mittlerweile hart durchgegriffen: The Guardian berichtete unlängst, dass Geschäfte im Besitz von oder mit Syrer*innen ohne Genehmigung geschlossen und der Abriss von Flüchtlingsunterkünften vorangetrieben werden. Ein Dekret des Innenministeriums und des Militär erzwang bis zum 1. Juli dieses Jahres die Zerstörung syrischer Betonbauwerke, die eine Höhe von einem Meter überstiegen. Gleichzeitig wurden keine neuen Unterkünfte vom Staat bereitgestellt. Laut Save the Children hat der Abriss informeller Siedlungen allein in der Grenzstadt Arsal 5.000 Familien, darunter bis zu 15.000 Kinder, wieder obdachlos gemacht.

Mit seinem Vorgehen versucht der libanesische Staat bewusst ein Klima der Angst und Einschüchterung zu schüren und die Flüchtlinge durch den Entzug jeglicher Lebensgrundlage zur „freiwilligen“ Rückkehr zu zwingen. Durch die Anti-Flüchtlings-Kampagnen sinkt auch der Rückhalt aus der libanesischen Bevölkerung, die das Narrativ übernimmt, Flüchtlinge seien Schuld an ihrer eigenen prekären Lage. Die feindliche Rhetorik hat sich zu gewalttätigen Zwischenfällen entwickelt: Beispielsweise wurden im Juni diesen Jahres 400 Flüchtlinge bei einem Brandanschlag auf eine syrische Siedlung in der Nähe der Stadt Deir al-Qamar vertrieben.

Rückkehr nach Syrien für die meisten keine Option

Trotz der Schikane, rechtlichen Unsicherheit und Perspektivlosigkeit hat sich bislang im Vergleich zur Gesamtzahl nur eine kleine Anzahl Geflüchteter auf den Weg zurück nach Syrien gemacht. Aus gutem Grund: Denn selbst wenn es hier irgendwann keine Kampfhandlungen mehr geben sollte, bleibt die Menschenrechtssituation in Syrien desaströs. Es kann nicht sichergestellt werden, dass die Rechte der Rückkehrer*innen gewahrt werden. Ganz im Gegenteil: Im Libanon verbliebene Flüchtlinge berichten immer wieder von Menschen, die bei ihrer Rückkehr vom syrischen Regime verhaftet wurden. Folter ist bereits ab dem ersten Hafttag üblich, viele Rückkehrer verschwinden spurlos.

Zwar ist es schwer nachzuverfolgen, was mit Syrer*innen nach ihrer Rückkehr genau geschieht. Das Regime verhindert systematisch, dass UNHCR oder andere unabhängige Beobachter die Situation von Rückkehrer*innen in Syrien beobachten können. Bekannt ist aber, dass die Menschen zunächst eine Sicherheitsfreigabe durchlaufen müssen. Dazu gehört ein Verhör durch syrische Sicherheitskräfte – also jene Geheimdienste, die nachweislich Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen, also für Folter, Misshandlungen, außergerichtliche Hinrichtungen und Zwangsvollstreckungen verantwortlich sind. Besonders prekär: Aus Syrien Geflohene stehen unter Generalverdacht, Terroristen zu unterstützen. Das betrifft insbesondere Menschen aus Regionen, die als Hochburgen des Widerstands gegen Assad gelten, z.B. die Region Homs.

Die Gefahr ist allgegenwärtig

Syrer*innen haben daher berechtigte Angst, bei der Rückkehr verhaftet, gefoltert oder zum Militärdienst eingezogen zu werden. Wer aus irgendwelchen Gründen in Verdacht gerät, Gegner*in des Regimes zu sein, ist von Verfolgung bedroht, auch wenn der Verdacht unbegründet ist. Selbst Menschen, die sich vom Regime haben bestätigen lassen, dass nichts gegen die vorliegt, können Opfer von Verfolgung werden.

Eine Studie der Weltbank anhand von Datensätzen des UNHCR zeigt, dass die Willkür des Regimes und die damit einhergehende Unsicherheit das schwerwiegendste Rückkehrhindernis ist.

Illegale Abschiebungen nach Syrien

Von einer freiwilliger Rückkehr syrischer Flüchtlinge kann angesichts ihrer Situation im Libanon keine Rede sein. Damit Flüchtlinge freiwillig zurückkehren zu können, bedarf es Sicherheiten. Die Bedingungen für eine Rückkehr in Sicherheit und Würde sind in Syrien unter Assad nicht gegeben – da sind sich zahlreiche Beobachter einig.

Dass die Behauptung, SyrerInnen kehrten massenhaft freiwillig aus dem Libanon nach Syrien zurück, ein Märchen ist, unterstreicht auch die Tatsache, dass der Libanon mittlerweile nicht mehr nur auf Druck, sondern unmittelbaren Zwang setzt: Es mehren sich Berichte von Abschiebungen aus dem Libanon nach Syrien. Sie verletzen den Kern des internationalen Flüchtlingsrechts: Das Verbot, Menschen in Staaten abzuschieben, in denen ihnen Folter und Ermordung drohen.