Soziale Stigmata und der lange Schatten des Konflikts – Presseschau 12. April

Mustafa al-Haj geht für al-Monitor ausführlich auf das Schicksal von AIDS-Patienten in Syrien ein, deren Lebensbedingungen durch den Konflikt erheblich erschwert wurden. Das syrische Gesundheitsministerium ging Ende 2014 von 883 offiziell gemeldeten HIV-Infizierten aus, von denen lediglich 154 SyrerInnen eine kostenlose Behandlung in Anspruch nehmen – die Übrigen können die notwendigen, sehr teuren Medikamente zumeist […]

Mustafa al-Haj geht für al-Monitor ausführlich auf das Schicksal von AIDS-Patienten in Syrien ein, deren Lebensbedingungen durch den Konflikt erheblich erschwert wurden. Das syrische Gesundheitsministerium ging Ende 2014 von 883 offiziell gemeldeten HIV-Infizierten aus, von denen lediglich 154 SyrerInnen eine kostenlose Behandlung in Anspruch nehmen – die Übrigen können die notwendigen, sehr teuren Medikamente zumeist nicht bezahlen. Das syrische Regime kann hierbei nur Zahlen vorlegen; jedoch fehlen weitere Informationen über die Auswirkungen des Krieges auf die Patienten sowie die Art und Menge der Behandlung. Ebenfalls fehlen Angaben über die Verfügbarkeit von Medizin.

Allerdings berichtet „Alaa Al-Zein“ (sämtliche Name wurden anonymisiert), dass er schon seit zwei Jahren auf eine Behandlung angewiesen ist und seitdem Probleme seinen Alltag bestimmen. Alle zwei Monate sucht er das Zentrum für Infektionskrankheiten in Zablatani auf, das direkt neben dem umkämpften Jobar-Viertel liegt. Dort muss Alaa manchmal die Hälfte seines Gehalts zahlen, um notwendige Tests machen zu können. Generell fehlt es Syrien – anders als seinen Nachbarländern – an AIDS-SpezialistInnen. Anfang 2013 kam es in Syrien zudem monatelang zu einem Lieferengpass an AIDS-Medizin. Alaa sah sich daher gezwungen, mehrmals in den Libanon zu reisen, was ihn mehr als 3000$ kostete. Jene, die sich das nicht leisten konnten, spürten eine Schwächung ihres Immunsystems. Alaa berichtet ferner von seinen Tests in der Al-Assad Universität von Damaskus, denen er sich aufgrund der Infektion regelmäßig unterziehen muss, und der Angst, von seinen Freunden und Verwandten gesehen zu werden. Dieses soziale Stigma wiegt für Alaa schwerer als jegliche Knappheit an Medikamenten.

Seit Ausbruch des Konfliktes kommen viele Patienten nicht mehr in das Zentrum für Infektionskrankheiten. Während ihr Schicksal ungewiss bleibt, weigert sich das Gesundheitsministerium, eine Erklärung zu diesem Thema abzugeben. Ein weiterer AIDS-Patient namens „Abu Marwan“ berichtet von Problemen, in privaten Krankenhäusern aufgenommen zu werden. Diese fürchten um ihren Ruf, sodass er auf das Zentrum angewiesen bleibt. „Wael“ wiederum wurde vor kurzem vom Wehrdienst freigestellt, weil AIDS-Patienten nicht im Militär dienen dürfen. Seitdem ist er an jedem Checkpoint der Schikane von Sicherheitskräften ausgesetzt, die ihn verhöhnen.

Maya Gebeily berichtet ebenfalls für al-Monitor über „Estayqazat“, eine im letzten Jahr gegründete feministische Online-Bewegung in Syrien. Ausgehend von der traditionellen patriarchalischen Gesellschaft, die im Land vorherrscht, riefen Männer und Frauen die Bewegung ins Leben, um auf die herrschende Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen. Die Gruppe von 30 Freiwilligen sammelt durch Interviews Anekdoten und Erinnerungen, die sie dann in kreative Videos einbaut und online stellt. Hauptthemen von „Estayqazat“ (arab. Für „Sie ist aufgewacht“) sind der Körper der Frau, Sex und Sexualität. Viele syrische Frauen kämpfen in ihrem persönlichen Leben mit Entscheidungen, die sie nicht frei treffen, da sie „sozialverträglich“ sein müssen. Das Patriarchat hält Frauen in einem ständigen Zustand von Angst und Schuld, weshalb viele an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.

Bisher hat die Gruppe zwei Kurzfilme veröffentlicht, um das Tabu-Thema der weiblichen Sexualität in Syrien auszuräumen. Die Kommunikation innerhalb der Gruppe erfolgt nur durch E-Mails, damit sämtliche Angehörige der Organisation anonym bleiben können. So lehnen sie auch Interviews ab, damit keine Fokussierung auf Einzelne erfolgt, was dem ultimativen Ziel der Gruppe widersprechen würde. Die Reaktionen auf die Arbeit der Gruppe reichen von begeistertem Zuspruch bis zu harten Verurteilungen. Manchen, unter ihnen auch syrische Frauen, geht die Fokussierung auf Sexualität zu weit bzw. halten sie andere Themen weiblicher Realität in Syrien für drängender. In jedem Falle wurde eine hitzige Diskussion losgetreten, was von der Gruppe als Erfolg gewertet wird. Die Frage bleibt, wie viel eine anonyme Online-Bewegung wie „Estayqazat“ erreichen kann. So haben z.B. viele Frauen in den Flüchtlingslagern keinen Zugang zum Internet, weshalb das Publikum beschränkt bleibt. Jedoch ist es laut den Organisatoren unerlässlich, in einer Zeit, wo die Ordnung in Syrien angefochten wird, auch das Thema des Patriarchats anzugehen.

Die monatelangen Kämpfe in Kobane fanden höchste Aufmerksamkeit in vielen internationalen Medien, doch seit dem Rückzug des IS ist es still geworden um die syrische Grenzstadt. Beri Mohammed berichtet auf ARA News von seinen Gesprächen, die er mit zurückgekehrten BewohnerInnen geführt hat. So erzählt ihm Muhammad Baki, dass der Geruch von Leichen die Straßen durchziehe, was eine optimale Grundlage für Krankheiten und Seuchen bietet. Die lokale Verwaltung hat schon vor Wochen angekündigt, die Leichen aus dem Schutt entfernen zu wollen, doch fehlt es ihr an den notwendigen Ressourcen. Fatima Buzan kam vor einem Monat nach Kobane zurück und berichtet von organisierten Banden, die plündernd auf der Suche nach Waffen sind, die vom IS zurückgelassen wurden. Diese verkauften sie dann an örtliche Behörden, so Buzan. Kobane ist zwar befreit, jedoch befindet sich die Stadt weiterhin in einem gelähmten Zustand, aus dem sie nicht zu erwachen scheint.

Omar Youssef stellt auf Damascus Bureau fest, dass die Schulbildung in Aleppo weiterhin auf beiden Seiten der Frontlinie leidet. Der Schatten des Konfliktes erreicht mittlerweile auch weite Teile des Bildungssystems. Die SchülerInnen lernen in zerstörten Schulen, während gleichzeitig Flugzeuge am Himmel kreisen und Bomben abgeworfen werden. Unqualifizierte Freiwillige haben v.a. in den von Oppositionellen gehaltenen Gebieten die LehrerInnen ersetzt, welche vor langer Zeit das Land verlassen haben. Laut einer von der Versammlung der Freien Ingenieure in Aleppo durchgeführten Umfrage sind 77 Schulen in den von Rebellen kontrollierten Stadtteilen Aleppos beschädigt. Aus Mangel an Alternativen wurden Teile des alten Regime-Lehrplanes wieder eingeführt, um die Bildung trotz der unzähligen Herausforderungen am Leben zu erhalten. Der anhaltende Kampf um die Kontrolle von Aleppo hat zum Niedergang eines Bildungssystems geführt, das bereits vor Ausbruch des Konflikts mit Problemen zu kämpfen hatte.

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