Stimmen aus Ghouta: »Ich bin innerlich zerbrochen«

Das Assad-Regime und Russland setzen ihre Offensive auf Ost-Ghouta unbeirrt fort. Das Violations Documentation Center zählt rund 1.500 Tote allein während der letzten drei Wochen. Nun wurde das Gebiet bei Damaskus in drei Sektoren aufgespalten. Zivile Aktivisten berichten.

Huda ist am Ende. Immer heftiger werden die Einschläge des Krieges in ihrem privaten Umfeld. Vor einigen Wochen starben eine Lehrerin und drei Schülerinnen bei einem Bombenangriff auf das von Huda betriebene Frauenzentrum. Nun wurde ihr Bruder durch eine Rakete getötet, als er einen Wassertank reparieren wollte. “Wir ertragen alles – Bomben, Hunger, Angst. Aber der Tod, das ist zuviel. Es ist zuviel, deinen eigenen Bruder in ein Leichentuch gehüllt vor dir zu sehen”, schreibt sie uns. “Ich kann nicht mehr stark sein. Ich bin innerlich zerbrochen.”

Hinzu kommt die Unsicherheit. Immer näher rücken die Truppen Assads und Russlands. Was jetzt mit ihnen passiere, so Huda, liege vollkommen im Dunkeln.

Die Lehrerin Sanaa, die wie die meisten Zivilisten in einem Keller ausharrt, um sich vor den Bomben zu schützen, schreibt:

Die Situation ist schrecklich, ich drehe noch durch in diesem Keller. Massen von Menschen sind aus den eingenommenen Gebieten zu uns nach Douma geflüchtet. Es gibt keinen Platz mehr. Die Stadt Douma hat keine Kapazitäten mehr, viele mussten in normalen Wohnungen untergebracht werden. Die sind über der Erde, die Wahrscheinlichkeit dort bei den Bombenangriffen zu sterben, ist also sehr hoch. Heute bin ich deswegen zu unserer Bibliothek gegangen, um dort mehr Platz für die ankommenden Flüchtenden zu machen. Der Weg dorthin ist lang und gefährlich. Aber wie ein Wunder waren grade keine Flugzeuge am Himmel. Wir konnten in der Bibliothek mehr als 20 Familien unterbringen.

Ich war auch in anderen Kellern in unserer Straße. Dort gab es viele Kinder, die mir erzählt haben, dass sie seit zwei Tagen nichts mehr gegessen haben. Es gibt jetzt gar kein Gemüse mehr, die Felder sind alle entweder vom Regime eingenommen oder dort wird grade gekämpft. Die Bauern, die hier angekommen sind, haben ihre Felder, aber auch ihre Vorräte und ihr weniges Vieh verloren. Das bedeutet auch, das wir noch weniger zu Essen haben, denn es kommt ja nichts in die Ost-Ghouta rein.

Trotz allem, ich habe Angst davor, die Ost-Ghouta zu verlassen. Ich wünsche mir sehr, dass es eine Lösung gibt, die es uns ermöglicht, hier in unserem Land zu bleiben. Aber zu Assad zurück können wir nicht. Und wenn wir weiter so extrem bombardiert werden wie letzte Nacht, dann wird es sowieso keine lebenden Zivilisten mehr geben, die man irgendwie evakuieren muss.

Ich gehe in den Keller zurück, die Einschläge kommen näher.

Von der Bildungsaktivistin Eman erreichte uns folgende Nachricht:

Gestern war eine sehr schwere Nacht für uns. Gestern war die Nacht, in der ich die größte Angst bisher hatte. Wir wurden mit Clusterbomben bombardiert. In den letzten Tagen sind noch mehr Menschen zu uns geflüchtet. Vor ein paar Tagen war es einmal etwas ruhiger. Vom frühen Morgen an waren die Straßen deshalb voll mit Menschen die ihr Hab und Gut mit sich trugen und vor den vorrückenden Truppen des Regimes aus den nördlich von uns gelegenen Städten geflohen sind. Aber der Platz in den Kellern reicht nicht mehr für alle aus. Gegenüber von uns gibt es ein unfertiges Haus, die Wände sind noch nicht fertig hochgezogen. Aber unter dem Haus gibt es zwei Keller – dort haben wir so viele Leute wie möglich untergebracht. Doch es kamen immer mehr, sodass einige jetzt völlig schutzlos im Erdgeschoss wohnen. 

Am schlimmsten sind die Gerüchte, die die Propaganda des Regime streut. Diese lassen die Menschen hier moralisch und psychisch einbrechen. Sie ergeben sich immer mehr ihrem Todesurteil.

Auch die Nahrungsmittelsituation wird immer schlimmer. Mehl gibt es gar nicht mehr, die Leute sind jetzt dazu übergegangen, anstelle des Mehls Malz zu nutzen. Und auch den findet man immer seltener und 1 Kilo kostet umgerechnet circa 10 Dollar.

Die meisten Kinder sind krank, denn sie sind seit mehr als zwei Wochen nur noch in den dunklen und feuchten Kellern. Es gibt keine Medikamente, keine Babywindeln mehr und auch keine Menstruationsbinden.

Wir versuchen täglich Frauen in anderen Kellern zu besuchen, ein bisschen mit ihnen zu reden und sie aufzumuntern. Wir sagen ihnen: „Das alles wird irgendwann vorbei sein.“ Aber die Angst vor der Umsiedlung treibt alle um.

Ich persönlich würde niemals und unter keinen Umständen in die Gebiete des Regimes zurückkehren. Mein Bruder wurde während der Revolution vom Regime in Damaskus getötet. Und auch wenn das Regime hier wieder die Macht übernimmt, bleibe ich definitiv nicht hier. Ich und jede andere Aktivistin hier würden sowieso mit Sicherheit nach kurzer Zeit verhaftet werden.

Selbst wenn wir gezwungen werden, zu gehen – in meinen Augen sind wir nicht gescheitert. Unser Ziel in der Revolution war, dass wir einen Ort aufbauen, an dem wir all das tun und sagen können, was uns das Regime verboten hat. Meinungsfreiheit. Und wir haben hier so viel erreicht in den letzten Jahren. Und selbst wenn wir die Ost-Ghouta verlassen müssen – wir werden diese Ideen mitnehmen und an einem anderen Ort weiterarbeiten. Diese Ideen und die Erfahrung der Freiheit in den letzten Jahren kann uns niemand wegnehmen.

Die Frauenrechtlerin Layla schreibt auf Facebook:

Es gibt nichts mehr zu sagen oder zu reden. Es ist nicht mehr beschreibbar. Ich weiß nicht, was ich schreiben soll, was ich sagen soll, in welcher Sprache ich sprechen soll… 

Aber ich muss sprechen und muss ausdrücken, was passiert. Ich muss jedes Mal einen neuen Weg finden und nach passenden Ausdrücken suchen, um zu sprechen. (…) Vielleicht bewegt sich bei irgendwem das Gewissen, vielleicht kann ich mit meinen Worten jemanden aufwecken?

Das Internet ist total schwach und vielleicht bricht es in den nächsten Tagen komplett weg… dann könnte ihr euch wieder entspannen und müsst nicht mehr unsere Stimmen, unseren Schmerz und unser Gerede, dass kein Ende nimmt, hören.
Dann kann sich euer Gewissen wieder beruhigen und ihr könnt sagen, dass ihr ja nicht wisst, was passiert und ihr könnt euer Leben normal fortsetzen.

(…) In unserem Herzen sind viel Groll, dunkle Gefühle und großer Schmerz, der weder aufgehoben noch vergessen werden kann. Wir werden nicht vergessen, dass wir im Stich gelassen worden sind und wir werden das nicht verzeihen. Wir werden unser Recht in dieser oder jener Welt bekommen, und wenn es nach dem Ende der Zeit ist.

Weitere Hintergründe über die Situation in Ost-Ghouta finden Sie in unserem gerade erschienen Factsheet.

Dem Grauen zum Trotz: Wir dürfen nicht wegsehen, wenn in Syrien das humanitäre Völkerrecht systematisch gebrochen wird. Adopt a Revolution unterstützt sieben zivile Projekt in Ost-Ghouta. Helfen Sie mit Ihrer Spende, stärken Sie zivile AktivistInnen!

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