Stimmen aus Ghouta: »Noch nie hatte ich solche Todesangst wie heute«

Mindestens 400 Menschen wurden während der letzten fünf Tage in Ost-Ghouta getötet, tausende weitere wurden verletzt. Seit Tagen harren die Menschen dort in stickigen Kellern aus, um sich vor den Bomben Assads und Russlands zu schützen. Lebensmittel und Medikamente sind rar – und ein Ende des Grauens ist nicht in Sicht. Zivile Aktivisten vor Ort berichten.

Nader, Bildungsaktivist:

„Wir sind körperlich und psychisch extrem erschöpft. Wir sitzen in den Kellern und können nicht raus. Hier leben jetzt 100 Menschen auf rund 200 Quadratmetern. Weil Hinauszugehen zu gefährlich wäre, kommen wir nicht an Essen heran. Aber seit drei Tagen sind die wenigen Läden, die noch über Ware verfügen, sowieso geschlossen. Auch die Händler müssen sich ja vor den Bomben unter der Erde verstecken.

Wir sitzen einfach nur da und warten darauf, was das Schicksal für uns bereit hält. In Hazzeh sind diese Woche 11 Menschen in einem Luftschutzkeller gestorben. Im Nachbargebäude war eine Fassbombe eingeschlagen und die Wände des Kellers sind einfach eingestürzt. Für mehrere Stunden konnte niemand sie aus den Trümmern bergen. Und jetzt haben die Leute noch mehr Angst, sogar wenn sie in den Luftschutzkellern sind. Dass Fassbomben eingesetzt werden, ist neu in Ost-Ghouta. Auch eine neue Art von Raketenwerfern wir jetzt benutzt. Die feuern 40 Raketen auf einmal ab.

Rückblickend betrachtet, hatte ich seit der ersten Demonstration 2011 eigentlich keine wirkliche Angst mehr. Jedenfalls nicht im Vergleich zu der Todesangst, die ich jetzt habe. Meine Frau und meine Tochter sind mit mir im Keller. Meine Tochter ist noch ein Säugling, sie versteht eigentlich nicht, was um sie herum passiert. Sie interessiert sich normalerweise nur dafür, ob sie essen und spielen kann. Aber selbst sie hat furchtbare Angst, so habe ich sie vorher noch nicht gesehen. Und meine Frau und ich haben die größte Angst um sie. Wir haben Hoffnung, aber wir sind so erschöpft.“


Die Bildungsaktivistin Eman, Mitbegründerin der von Adopt a Revolution unterstützten Initiative „Lamset Amal“, hat für uns ein Video aufgenommen:


Anfang Februar starb Wahida, eine Lehrerin des Frauenzentrums Nisaa al-Ghouta, bei einem Luftangriff. Auch drei ihrer Schülerinnen, Mumina, Mallak und Ola, wurden getötet. Huda, die Leiterin des Zentrums, schrieb uns am Mittwoch Folgendes. Seit gestern ist sie nicht mehr erreichbar:

„Ich habe seit 24 Stunden nicht geschlafen, denn die Flugzeuge bombardieren tags und nachts. Seit Tagen sitze ich zuhause in meiner Wohnung, über uns die Flugzeuge, um uns herum die Einschläge der Raketen. Auf die Straße gehen kann man nicht. In die Schutzkeller will ich nicht – zu groß ist meine Angst lebendig dort begraben zu werden, sollte unser Haus durch eine Bombe getroffen werden.“


Zakwan, Koordinator der Schulen in Erbin, die gegründet wurden, um Kindern eine Alternative zu den Schulen der islamistischen Eiferer zu bieten:

„Die Situation ist heute weiter eskaliert. Es gab mehrere Angriffe mit Fass- und Streubomben. Seit drei Tagen gibt es kein Brot mehr in Erbin. In anderen Städten wie Mesraba, Saqba und Humouriye wurden die Bäckereien gezielt bombardiert und zerstört, bei uns in Erbin wurde bisher nur das Gebäude gegenüber von der Bäckerei getroffen. Das Problem ist, abgesehen von der gezielten Zerstörung von Lagerräumen und Bäckereien, dass sich niemand mehr aus den Kellern hinausbewegen kann, weil die Bombardierungen ständig anhalten. Ladenbesitzer können ihre Läden nicht öffnen und die Bäcker nicht zum Brotbacken gehen.

Schon vor den extremen Luftangriffen war die Versorgungslage aufgrund der Belagerung sehr schlecht. Es gab nur noch wenige Nahrungsmittel zu kaufen und das zu immens hohen Preisen. Dementsprechend konnten einige wenige lokale Hilfsorganisationen gestern noch kleine Mengen an Essen verteilen, aber längst nicht an alle Menschen in den Luftschutzkellern. Heute ist der erste Tag, an dem es nichts mehr zu essen gibt. Ich konnte heute für meine Familie und mich nichts mehr organisieren. Es gibt kein Brot, aber auch kein Mehl mehr. Meine Frau, mein kleiner Sohn und ich haben nur ein paar trockene Kekse gegessen, die ich vor einiger Zeit gekauft habe und die wir noch bei uns hatten. Davon können wir auch morgen noch etwas essen. Danach weiß ich nicht, was werden soll. Ich weiß nur, dass uns hier allen klar ist, dass das Regime bereit dazu ist, fast eine halbe Millionen Menschen in Ost-Ghouta auszulöschen.

Wir wollen eine Waffenruhe, und zwar eine anhaltende – keine für ein paar Stunden oder Tage. Wir wollen außerdem, dass ein Korridor für die legale Einführung von Waren von Damaskus in die Ost-Ghouta geöffnet wird. Und damit meine ich keine Hilfslieferungen der UN, sondern die Öffnung eines Handelsweges. Wir wollen keine Abkommen, die sich bloß auf Hilfslieferungen von der UN beschränken, denn die UN in Damaskus wird vom Regime kontrolliert und darf nur das einführen, was ihnen das Regime erlaubt. So wurde zum Beispiel seit Beginn der Belagerung nicht erlaubt, dass Impfstoffe für die Kinder nach Ost-Ghouta gebracht werden. In anderen belagerten Gebieten haben sie Fußbälle geliefert – als die Bevölkerung am verhungern war! Die Hilfslieferungen sind für uns also nur Hohn und Spott – und keine Lösung.“

Allem Grauen zum Trotz: Wir dürfen nicht wegsehen, wenn in syrischen weiterhin systematisch das humanitäre Völkerrecht gebrochen wird. Adopt a Revolution unterstützt derzeit sieben zivile Projekt in Ost-Ghouta. Helfen Sie mit Ihrer Spende, stärken Sie zivile AktivistInnen!

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