Rund eine Woche nach den zerstörerischen Erdbeben gestand der UN-Untergeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten und Nothilfekoordinator, Martin Griffith, das Versagen der UN in Syrien öffentlich ein. Gemeint war die ausbleibende Unterstützung der betroffenen Menschen durch die Vereinten Nationen und ihrer Mitgliedsstaaten. Denn in den ersten Tagen, in denen es buchstäblich um Leben und Tod für viele Menschen ging, passierte: Nichts. Anstatt sofort ein Großaufgebot an humanitärer, medizinischer und technischer Hilfe zu schicken, kamen nicht einmal mehr die regulären Hilfslieferungen in Nordwestsyrien an. Dabei hing bereits vor den Erdbeben das Überleben von 90 Prozent der hier lebenden Menschen unmittelbar von humanitärer UN-Hilfe ab.
Griffiths versprach, diese Fehler in der Zukunft zu korrigieren. Für die Verschütteten, die unter den Trümmern auf Rettung hofften, war die Ankündigung zu diesem Zeitpunkt bereits zu spät. Aber zumindest für die Überlebenden ließ es hoffen. Zwei Monate später die ernüchternde Bilanz: Viel geschehen ist seitdem nicht.
Humanitäre UN-Hilfe im Vergleich zum Vorjahr halbiert, statt verdoppelt
Zwar erreicht Idlib, die am schwersten betroffene Provinz im Nordwesten Syriens, mittlerweile internationale Hilfe, diese ist aber nicht ansatzweise ausreichend. Seit den Erdbeben am 6. Februar haben nach Angaben der UN insgesamt 1.202 mit internationalen Hilfsgütern beladene LKW die Region erreicht – davon 456 im Februar und 746 im März. Zum Vergleich: im März 2022 waren es insgesamt 1.469 LKW. Trotz der explodierenden Not und der Zusage der Vereinten Nationen und ihrer Mitgliedstaaten Erdbebenhilfe zu schicken, wurden also die Lieferungen im Vergleich zum Vorjahr sogar halbiert. Zudem sind lediglich 20 Prozent der aktuellen Hilfslieferungen tatsächliche Erdbeben-Nothilfe, die Mehrheit sind Lieferungen im Rahmen der regulären Hilfen und nicht auf die derzeitigen Bedürfnisse ausgerichtet.
Während die Erdbeben und ihre Folgen weitestgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden sind, kämpfen die Betroffenen vor Ort weiter um ihr Überleben und werden dabei von der internationalen Gemeinschaft weiterhin nicht ausreichend unterstützt.
Die Rehabilitierung eines Massenmörders schreitet voran
Während in Nordwestsyrien noch immer Hunderttausende Menschen auf Hilfe warten, zeigt sich der syrische Diktator Assad hingegen bestens gelaunt. Denn er steht dank der tödlichen Erdbeben vor seinem Comeback. Eigentlich ist das Assad-Regime aufgrund seines brutalen Vorgehens gegen die syrische Bevölkerung international weitgehend isoliert: Die absolute Mehrheit der westlichen Staaten verhängte 2011 weitreichende Wirtschaftssanktionen und beendete die diplomatischen Beziehungen. Zudem wurde Syrien aus der Arabischen Liga ausgeschlossen, ihre Mitglieder riefen ihre Botschafter aus dem Land zurück.
Aber bereits in den vergangenen Jahren bröckelte die Mauer der Ablehnung bei einigen arabischen Staaten. So eröffneten beispielsweise die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Bahrain im Dezember 2018 wieder ihre Botschaften in Damaskus, der Oman setzte seinen Botschafter im Oktober 2020 wieder ein, weitere folgten. Bereits der Ausbruch der Corona-Pandemie diente als Feigenblatt für einige Staaten ihre Beziehungen zum Regime zu normalisieren. Unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe sollten „etwaige politische Differenzen in den Hintergrund rücken“, argumentierte beispielsweise Muhammad Bin Zayid, der Kronprinzen der VAE. Jetzt, nach den verheerenden Erdbeben, nimmt der Normalisierungsprozess rund um das Assad-Regime noch einmal Fahrt auf: Selbst bislang skeptische Mitglieder der Arabischen Liga, wie beispielsweise Ägypten, sind bereit, den Diktator wieder in ihre Reihen einzugliedern.
Diplomatische Annäherung unter einem „humanitären Deckmantel„
Es ist ein fatales Zeichen, denn das Assad-Regime hat eine lange Geschichte von schweren Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die bis heute andauern und nicht folgenlos bleiben dürfen. Die Entwicklung war allerdings absehbar und es besteht die Gefahr, dass angesichts der fortschreitenden Normalisierung des Regimes in arabischen Ländern, auch die westlichen Staaten ihre Mauer nicht rigoros aufrechterhalten werden.
Denn unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe findet auch unter ihnen bereits eine schleichende Normalisierung des Assad-Regimes statt. Ungarn hatte bereits 2019 angekündigt, diplomatische Vertreter nach Syrien zu schicken, um sich dort ein Bild von der humanitären Hilfe für dort lebende Christ*innen zu machen und konsularische Aufgaben zu übernehmen. Die amtierende italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sprach sich vor ihrer Wahl für den Machterhalt Assads aus. Italien war das erste EU-Land, das einen Hilfskonvoi für die Erdbebenopfer über die libanesische Grenze in die Assad-Gebiete schickte. Aber auch die deutsche Bundesregierung entsendete Hilfsflüge nach Damaskus und damit direkt in Assads Hände.
Dabei instrumentalisiert und missbraucht das Regime erwiesenermaßen jegliche Hilfen zu politischen Zwecken und verhindert, dass diese bei den Bedürftigen ankommt. Obwohl sich 88 Prozent der vom Erdbeben betroffenen Gebiete in Syrien außerhalb der Kontrolle des Assad-Regimes befinden, laufen 90 Prozent der internationalen Hilfen über Damaskus und kommen so nicht bei den Betroffenen vor Ort an. Damit unterstützen die UN und die EU wissentlich das Assad-Regime bei seinem Machterhalt.
Rote Linien wahren und echte Hilfe schicken
Die gute Nachricht: Es gibt eine Alternative. Die Geberländer müssen ihre humanitäre Unterstützung für Millionen Bedürftige in Nordwest-Syrien unabhängig von der UN organisieren und stattdessen auf lokale zivile Organisationen vor Ort setzen. Nur über eine solche dezentrale Verteilung kommen die Hilfen auch tatsächlich bei den Bedürftigen an und finanzieren nicht stattdessen das Assad-Regime. Das gilt insbesondere jetzt, nachdem bei der Geberkonferenz vor zwei Wochen weitere 7 Milliarden Euro als Erdbebenhilfe zugesagt wurden. Diese dürfen keinesfalls in Assads Taschen fließen.
Gleichzeitig ist die Internationale Gemeinschaft gefordert, sich gegen die herrschende Straflosigkeit des Assad-Regimes zu stellen und allen Staaten entschieden entgegenzutreten, die seine Rehabilitierung vorantreiben. Das gilt sowohl für die Mitglieder der Arabischen Liga, als auch die der Europäischen Union, wie Italien oder Ungarn. Denn solange die Kriegsverbrechen des Assad-Regimes ungesühnt bleiben und dessen schwere Menschenrechtsverletzungen andauern, ist eine Normalisierung der Beziehungen zum Assad-Regime mit nichts zu rechtfertigen.