Viele lokale zivilgesellschaftliche Initiativen, Land versus Stadt, Vergewaltigungen, Chemiewaffen bestätigt – Netzschau 05. Juni

In den befreiten Gebieten gibt es inzwischen immer mehr zivile Initiativen. In der Grenzstadt Tell Abyad (Provinz Raqqa) arbeitet das gemeinnützige Zentrum für Frauen und Kinder in verschiedenen Bereichen. Zusammen mit Ärzte ohne Grenzen führten sie eine Impfkampagne gegen Masern durch. Helfer für Impfkampagnen und Feldlazarette wurden in einer mehrwöchigen Schulung in medizinischer Grundversorgung ausgebildet. […]

In den befreiten Gebieten gibt es inzwischen immer mehr zivile Initiativen. In der Grenzstadt Tell Abyad (Provinz Raqqa) arbeitet das gemeinnützige Zentrum für Frauen und Kinder in verschiedenen Bereichen. Zusammen mit Ärzte ohne Grenzen führten sie eine Impfkampagne gegen Masern durch. Helfer für Impfkampagnen und Feldlazarette wurden in einer mehrwöchigen Schulung in medizinischer Grundversorgung ausgebildet. Das Anfertigen von Handarbeiten ist auch Teil der Projekte; Frauen können sich ein kleines Einkommen sichern. Da Tell Abyad direkt an der türkischen Grenze liegt, ist jener Markt lukrativ. Über das Zentrum aus Tell Abyad schrieb kürzlich eine der vielen neuen syrischen Zeitungen (Artikel). Die Frauen fordern auch politisch mehr Mitsprache in Tell Abyad, was bislang verwehrt wurde.

In der Provinzhauptstadt Raqqa hielten AktivistInnen ebenfalls einen Verkauf von Handarbeiten ab. Mit den Erlösen sollen bedürftige Familien unterstützt werden. In der Stadt Hassakeh führen AktivistInnen Aufräumarbeiten durch, bei denen auch Müllbeseitigung ein Thema ist. Die Aktionen werden auch vom Zentrum für gesellschaftlichen Zusammenhalt durchgeführt, Hassakeh wird u.a. von kurdischen und arabischen Bürgern bewohnt.

Ein anderer Schwerpunkt der zivilen Arbeit ist Bildung. Das Syrian Nonviolence Movement weist auf Projekte und Schulungen für Lehrpersonal in Aleppo hin. Gerade für die befreiten Gebiete sei es wichtig, den Lehrbetrieb aufrechtzuerhalten. Dafür braucht es v.a. auch qualifiziertes Personal. Die Gruppen Nabd und Kesh Malek haben in Aleppo bereits eine kleine Grundschule aufgebaut. Nun haben sie für die Schüler der 9. und 12. Klassen einen speziellen Lehrbetrieb aufgenommen. In beiden Klassenstufen sind Abschlussprüfungen anhängig, jedoch ist im letzten Schuljahr viel Unterricht ausgefallen.

Eine neue Seite, Syria Untold, berichtet über die Revolution und Graswurzelbewegungen. Ein Bericht behandelt das Viertel Bustan al-Qasr (Aleppo), das sich in seinem unermüdlichen Protest gegen das Regime, aber auch Jabhat al-Nusra stellt. Ein weiterer Artikel über Raqqa (Lessons from Raqqa) legt dar, wie die Stadt nach der Befreiuung im März 2013 in einem Vakuum versank – junge AktivistInnen organisierten jedoch kurzerhand eine Vielzahl von Aktionen, um die Stadt wieder in Gang zu bringen. Syria Untold berichtet zudem über eine Fabrik für Trockenfeigen, in der nur Frauen angestellt sind. Die Fabrik bei Kafranbel (Provinz Idlib) bietet lokalen Frauen Arbeit – und ihren Familien ein Auskommen. In einem Fall hat sich ein Ehepaar gar zum Modell Hausmann entschieden. Für den desertierten Regierungsangestellten gibt es keine Arbeit, also verdient nun ganz praktisch die Frau das Geld.

Einen elitären Blick auf die Revolution hat der Aktivist “Edward Dark” aus Aleppo. In “How we lost the Syrian Revolution” (Al-Monitor) beklagt er die Bewaffnung der Opposition als schweren Fehler. Die klare Dichotomie, die er zwischen den “gebildeten” Städtern und den “blutrünstigen und rachsüchtigen” Dörflern aufmacht, die Aleppo überrannt hätten, ist jedoch augenfälliger. Dark berichtet von Lynchjustiz und groß angelegten Plünderungen nach dem Einrücken der Rebellen. Seine Schlussfolgerungen: “It became apparent soon enough, that it was simply a case of us versus them. They were the underprivileged rural class who took up arms and stormed the city, and they were out for revenge […]. Their motivation wasn’t like ours, it was not to seek freedom, democracy or justice for the entire nation, it was simply unbridled hatred and vengeance for themselves. Extremist and sectarian in nature […].”

Dass Vergewaltigungen von Seiten der Regierungskräfte begangen werden, ist bereits von der UN und Women under Siege berichtet worden. Lauren Wolfe schildert, dass syrische Frauen Vergewaltigungen meist aus Scham verschwiegen oder von “Nachbarinnen” berichtet wird, denen so etwas geschehen sei. In einem aktuellen Beitrag von Rima Maktabi (Al-Arabiya) berichtet Amal, das Gesicht verborgen, ihre Geschichte. Amal, 19 Jahre alt, wurde im Oktober 2012 festgenommen und verbrachte insgesamt 100 Tage in fünf verschiedenen Gefängnissen. In dieser Zeit wurde sie fortwährend vergewaltigt, gefoltert und gedemütigt. Anfang 2013 floh Amal nach Amman, wo sie nun auch von einer Syrerin betreut wird. Jene will vergewaltigten Mädchen beistehen und sie ermutigen, über das Erlebte nicht zu schweigen. Amals Vater ist schwer betroffen, steht seiner Tochter jedoch bei.

Auf Syria Comment ist die UN-Dokumentation “Where the war still echoes” verlinkt. In bislang zwei Folgen wird das Leben einer Familie aus Daraa im Flüchtlingscamp Zaatari (aktuelle Bilder) dargestellt. Die 11-köpfige Familie ist mit weiteren Angehörigen Ende 2012 nach Jordanien geflohen, wo der nahe Bürgerkrieg oft zu hören ist. Die Sorge um Angehörige, die beengten Verhältnisse, mangelhafte Betreuung für die Kinder und die klimatischen Bedingungen stellen die Familie auf die Probe. Nach mehreren Monaten sind Dutzende Familienmitglieder nachgekommen. Während sich die Mutter um die Familie kümmert, überlegt der Vater nach Syrien zurückzukehren, um zu kämpfen. Das Schuldgefühl, untätig im Camp herumzusitzen, nagt am Stolz der Männer. SPON erinnerte derweil an ein vergessenes Flüchtlingslager in Irakisch-Kurdistan. In Domiz leben ca. 140.000 Menschen, vorrangig syrische Kurden. Die Versorgungslage in dem Lager scheint zwar ausreichend, auch die kurdische Regionalregierung stellt Mittel zur Verfügung. Der Flüchtlingsstrom stellt den Irak vor eine große Probe. Die Flüchtlinge fühlen sich von der Welt vergessen, viele sind traumatisiert. Manche flohen gar aus Damaskus in den fernen Nordirak.

Mig, ein sehr künstlerischer Film mit poetischer Sprache, schildert aus Sicht eines Bewohners das Camp Yarmouk in Damaskus. Yarmouk sei palästinensische Identität, aber auch Syrien. Syrien sei die liebe Tante; diese habe jedoch einen bösen Mann – Bashar al-Assad. Als dieser nach und nach Damaskus in Brand setzt, macht er auch vor Yarmouk nicht halt. Am 16. Dezember 2012 bombardierte ein Mig-Jet das Camp, die Gewalt bricht ins Viertel – und den Film – ein. Yarmouk hatte unzählige Flüchtlinge benachbarter Viertel aufgenommen und so den Zorn des bösen Onkels auf sich gezogen. Der Film ist v.a. eine Hommage an Yarmouk.

Die syrisch-palästinensische Journalistin Doha Hassan wurde mit einem arabischen Journalismus-Preis geehrt (NOW). Grund der Auszeichnung: Ihre Geschichte über Jugend in Syrien und die ideologische Indoktrinierung unter den Assads. Der arabische Artikel “Als meine Lehrerin mir sagte: ‘Hafez al-Assad ist wie Gott unsterblich'” ist auch auf Englisch erschienen. Hassan schreibt: “While it is true that everyone has his or her own reason for joining the rebellion against the regime, all Syrian nationals were subjected to the same perversion in the Baath’s military schools.”

Aktuelle Nachrichten: Am Dienstag erstattete die UN-Syrien-Kommission in Genf Bericht (tagesschau). In Syrien sollen bislang min. vier Mal chemische Waffen eingesetzt worden sein – wohl am ehesten von Regierungstruppen. Menschenrechtsverletzungen seien in Syrien alltäglich geworden und werden von beiden Seiten begangen. Das Regime gehe dabei systematischer vor. Allein zwischen Januar und Mai soll es 17 Massaker in Syrien gegeben haben. Frankreich sieht den mehrmaligen Einsatz von Sarin in Syrien als erwiesen an (tagesschau). In Proben sei das Nervengas nachgewiesen worden. Wer für den Einsatz verantwortlich ist, blieb offen.

Laut Bericht der WELT sollen nun bis zu 4000 Hisbollah-Kämpfer rund um Aleppo stationiert sein, um dort wie in Qusayr eine Regierungsoffensive zu unterstützen. Die Hisbollah kämpfe in Syrien um ihre Existenz, so die WELT. Die humanitäre Lage in der Stadt Qusayr gilt als dramatisch (dw), die Regierung weigert sich jedoch, Hilfsorganisationen den Zugang zu gewähren. Diese könnten nach den Kampfhandlungen nach Qusayr, hieß es. Tausende Zivilisten sollen noch in Qusayr sein. Die Gewalt und die Spannung im Libanon nimmt weiter zu, berichten dw und SZ-Printausgabe (04.06.).

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