Die Zahl derer, die aus Syrien in die umliegenden Länder geflohen sind, nähert sich stetig der vier Millionen-Marke: Das Flüchtlingshilfswerk der UN, das UNHCR, beziffert die Zahl der syrischen Flüchtlinge aktuell mit 3.980.623. Demgegenüber stehen gerade einmal knapp 254.000 Asylgesuche von SyrerInnen in Europa, davon mehr als die Hälfte seit 2014. Dies illustriert, dass die katastrophale humanitäre Lage in Syrien vielen keinen anderen Ausweg mehr lässt als die Flucht aus der Heimat.
In einem Text mit dem Titel „Über das Exil der SyrerInnen und Syrien als Exil“ beschäftigt sich der syrische Intellektuelle Yassin al-Haj Saleh mit genau diesem Exil. Al-Haj Saleh selbst lebt seit mehr als einem Jahr im Istanbuler Exil, seine Frau Samira al-Khalil sowie sein Bruder Firas sind seit 2013 in Syrien verschleppt. So betont al-Haj Saleh auch die Zerrissenheit, die viele Flüchtlinge und Exilierte betrifft: Man selbst hat sich ins Ausland gerettet, doch viele wichtige Menschen sind in Syrien verblieben. Man lebt im Exil, doch man hat auch die Heimat niemals hinter sich gelassen. Interessant ist ferner auch ein zentraler Gedanke des Textes: Selbst vor der Revolution und dem Krieg war Syrien eine Art inneres Exil für die Bevölkerung: Der politischen Rechte beschnitten, ohne rechtliche Sicherheiten, fern einer unabhängigen kulturellen Landschaft, das soziale Leben beengt durch die lange Hand des korrupten und diktatorischen Staates. Al-Haj Saleh argumentiert, dass die meisten zwar versucht hätten, ihre Menschlichkeit in diesem System so gut wie möglich zu bewahren, sich jedoch mit dem System zu arrangieren hatten. So sei in Syrien vor 2011 weder ein politisches noch ein moralisches Leben möglich gewesen. Das Wort „Exil“ beschreibe daher passend das Leben im „Gefängnis“ Syrien vor 2011.
Gegenwärtig finden sich jedoch Millionen von SyrerInnen im Exil jenseits von Syrien wieder, vertrieben und der Sicherheit einer Heimat beraubt. Das Fehlen eines „Zuhauses“, sei es ein metaphorischer Ort gleich des Heimatlandes oder das tatsächlich private Heim, stelle das essentielle Problem des Exils dar: die Schwierigkeit, schlicht ein neues „Heim“ zu haben, einen Ort, an den man immer zurückkehren könne. Al-Haj Saleh führt jedoch einige Aspekte an, die das Exil erträglicher machen können: Freundschaft, Arbeit – v.a. auch jene, die die Exilanten und Flüchtlinge mit ihrem Heimatland verbindet –, die Sprache des Exillandes sowie das Finden eines neuen Zuhauses. Als persönliche Referenz bemerkt al-Haj Saleh, dass einst in Syrien seine Ehefrau Samira sein Zuhause war. Sein Zuhause liegt nicht an einem Ort, sondern an seiner geliebten Ehefrau; ein Schmerz, der das Exil vergrößert. Darüber hinaus gibt al-Haj Saleh an, dass das Private politisch und das Politische privat wurde – ein Schicksal, das alle SyrerInnen im Exil teilen würden.
Wie ein Text des Rolling Stone aufzeigt, wird das Private schnell politisch – und z.B. im Libanon problematisch. „The children from nowhere“, die Kinder aus dem Niemandsland sind syrische Kinder, deren Geburt nicht ausreichend bei den libanesischen wie internationalen Behörden registriert wurde, sodass ihnen die Staatenlosigkeit droht. Laut UNHCR betreffe dies im Libanon aktuell 36.000 syrische Kinder (Al-Jazeera). Fehlt ein Nachweis über die Staatsangehörigkeit, bleibt den Kindern der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung oder Gesundheitsvorsorge verwehrt. Ferner können sie (später) nicht legal reisen, arbeiten oder heiraten. Sie sind zudem wenig geschützt vor Kinderarbeit, früher Heirat, illegaler Adoption oder sexueller Ausbeutung. Diese Kinder leben in einer Grauzone, die sie zu einer neuen verlorenen Generation macht.
Die Ursachen, warum syrische Kinder im Libanon unregistriert bleiben, sind vielfältig. Die Kinder müssen sowohl bei den nationalen libanesischen Behörden als auch beim UNHCR registriert werden. Jedoch besitzen bei weitem nicht alle Eltern gültige Dokumente, z.T. sind auch Eheschließungen nicht ausreichend dokumentiert. Ohne gültige Dokumente schlägt die Registrierung fehl. Die libanesische Staatsangehörigkeit kann ferner nur von einem männlichen libanesischen Staatsbürger vererbt werden, sodass dies für Kinder syrischer Familien nicht greift. Dass syrische Geburten im Libanon undokumentiert bleiben, hängt jedoch auch mit den hohen bürokratischen Hürden für syrische Flüchtlinge zusammen. Wer ein Kind registrieren lassen will, muss eine gültige Aufenthaltserlaubnis nachweisen. Diese muss halbjährlich erneuert werden und kostet pro Person (über 15 Jahren) jährlich 200 Dollar – ein Betrag, der für die meisten syrischen Flüchtlinge vollkommen unbezahlbar ist. Vielen SyrerInnen fehlt zudem oft das Wissen, wie Geburten zu registrieren sind. Da es keine offiziellen Flüchtlingslager gibt und die SyrerInnen über 1.700 Orte im ganzen Land verteilt sind, ist die Informationsarbeit unter den Flüchtlingen schwierig. Weiterhin können sich die meisten der Flüchtlinge aus Angst vor Repressionen nicht um Hilfe an die syrische Botschaft wenden.
Es darf weiter nicht vergessen werden, dass die geringe Aufnahmebereitschaft u.a. in Europa vielen SyrerInnen keinen anderen Weg lässt, als sich illegal nach Europa zu begeben. Hier lassen nun Bemerkungen vom SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel aufhorchen. Er forderte ein grundlegendes Umdenken in der Flüchtlingsfrage in Deutschland wie Europa, berichtet Zeit Online. Unter anderem müsse es für Asylbewerber bessere legale Einreisemöglichkeiten geben, so z.B. humanitäre Visa für Menschen aus Konfliktregionen. Da syrische Flüchtlinge in Deutschland eine Anerkennungsquote von nahezu 100 Prozent aufwiesen, solle man sie nicht Schleusern überlassen. Stattdessen sollten SyrerInnen sicher mit Fähren nach Europa einreisen können. Bleibt man realistisch, werden diesen Worten vermutlich weder in Deutschland noch in der EU Taten folgen.
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