taz-Kommentar: Syrien im Aufbruch

Nach der Rückeroberung des Ortes Qussair durch die Syrische Armee wird in der deutschen Presse und Politik wieder über Sieg und Niederlage in Syrien spekuliert. Diese Debatte geht jedoch an der tatsächlichen Lebenswirklichkeit in Syrien vorbei und verhindert eine effektive Syrienpolitik. Anfang Mai flog Gerhard Schindler, der Chef des Bundesnachrichtendiensts (BND), nach Damaskus, um sich […]

Nach der Rückeroberung des Ortes Qussair durch die Syrische Armee wird in der deutschen Presse und Politik wieder über Sieg und Niederlage in Syrien spekuliert. Diese Debatte geht jedoch an der tatsächlichen Lebenswirklichkeit in Syrien vorbei und verhindert eine effektive Syrienpolitik.

Anfang Mai flog Gerhard Schindler, der Chef des Bundesnachrichtendiensts (BND), nach Damaskus, um sich dort mit Kollegen vom syrischen Geheimdienst zu treffen.So berichtete die ARD. Offenbar sind die geheimdienstlichen Beziehungen, die im zehnjährigen „Kampf gegen den Terror“ zum Assad-Regime geknüpft wurden, doch haltbarer als manche lautstarke Unterstützung der syrischen Revolution.

Ras al Ain - Geheimdienst
Zerstörtes syrisches Staatswappen an der Tür zum ehemaligen Geheimdienstgebäude in Ras al Ain.

Seine Behauptung vom letzten Herbst, Assads Regime werde innerhalb weniger Monate zusammenbrechen, musste der BND bereits zuvor ad acta legen. Spätestens seit die libanesische Hisbollah ihre Kämpfer nach Syrien schickt und Russland und Iran ihre Waffenlieferungen an das Regime angekurbelt haben, scheint sich endgültig in ein militärisches Patt eingestellt zu haben.

Entsprechend zurückhaltend positionieren sich – wie immer – die EU-Länder: So wurde das Waffenembargo zwar aufgehoben, doch geliefert wird noch lange nicht. Frankreich und England, beide forsche Verfechter einer militärischen Ausrüstung der Rebellen, wollen erst einmal bis Ende August „weitere Entwicklungen“ abwarten.
Unabhängig davon, ob die geheimdienstliche Neubeurteilung der syrischen Machtverhältnisse zutreffend ist: Beide Ereignisse unterstreichen den fundamentalen Fehler der europäischen respektive deutschen Syrienpolitik. Anstatt sich mit den konkreten politischen Verhältnissen innerhalb des Landes zu befassen, setzt die hiesige Politik ausschließlich weiter auf ein „grand design“ eines allumfassenden Syrienplans. Den aber gibt es nicht, denn der Ausgang des Konflikts bleibt weiter offen und ungewiss.

Indem sich die Außenpolitik auf Umsturz (welche Waffen für welche Rebellen?) oder Fortbestand (BND-Kontakte zu welchem syrischen Geheimdienst?) konzentriert, übersieht sie, dass längst an regionalen Lösungen innerhalb Syrien gearbeitet wird.

Etwa im Norden und Osten, Gegenden, die mit wenigen Ausnahmen seit Monaten als befreit gelten. Dieses riesige Gebiet erstreckt sich fast von der Küste im Nordwesten, entlang der türkischen Grenze und des Euphrattals bis hin zum Irak. Mit Ausnahme weniger Städte haben sich Militär und Baath-Funktionäre aus diesen Gegenden zurückgezogen und sie der Selbstorganisation der Menschen vor Ort überlassen. Selbst in den wenigen Orten, die ab und an aus der Luft angegriffen werden, hat bereits die neue Zeitrechnung begonnen. In dieser Post-Regime-Phase übernehmen die Menschen die Verwaltung ihrer Ortschaften, erhalten eine rudimentäre öffentliche Sicherheit aufrecht und gehen erste Schritte eines ökonomischen Wiederaufbaus.

Besonders groß ist die Aufbruchstimmung in den kurdischen Gebieten im Nordosten. Gerade gegründete Frauengruppen diskutieren die Rolle der Frau in einer neuen syrisch-kurdischen Gesellschaft und Studierendenkomitees beschäftigen sich mit Verfassungsfragen. Initiativen von Ärzten organisieren die medizinische Versorgung und Journalisten treten für das gerade erkämpfte Recht auf freie Meinungsäußerung ein, auch gegenüber den neuen Autoritäten. Der „Hohe Kurdische Rat“, ein Bündnis fast aller kurdischen Parteien, arbeitet daran, das Vakuum zu füllen, das der plötzliche Rückzug des alten Regimes hinterließ, mit eigener Armee sowie Polizeieinheiten und Gerichten.

In anderen Städten ist die fehlende Sicherheit noch das zentrale Problem. Zwar gibt es überall neue Verwaltungsstrukturen mit teils gewählten, teils ernannten Vertretern; doch nach 40 Jahren Diktatur fehlt es an Erfahrung, technischem Knowhow und finanziellen Mitteln. Ohne Unterstützung aus dem Ausland können die gewählten VertreterInnen den großen Problemen nicht gerecht werden. Etwa in Tall Abyad, einer Kleinstadt mit 30.000 EinwohnerInnen in der Provinz Raqqa traut sich der Bürgermeister nur schwer bewaffnet aus seinem Büro. An die 100 verschiedene bewaffnete Gruppen kontrollieren die Region. Er würde gerne Polizeieinheiten aufstellen. Doch er scheitert genauso an der Finanzierung, wie den islamistischen Kämpfern der Al-Nusra-Brigaden, die höchstens eine Religionspolizei akzeptieren würden.

Tall Abyad
Der Bürgermeister in Tall Abyad in seinem Büro.

Das syrische Regime hat Tall Abyad vor acht Monaten verlassen. Man kann dort, wie in die meisten anderen Gebiete im Nordosten Syriens, relativ gefahrlos hinreisen. Das Regime kann wie zuletzt in Qussayer sicher auch Orte im Norden militärisch zurückerobern, es hat aber seit längerem nicht mehr die personell die Kraft flächendeckend die alte bleierne Zeit wieder herzustellen. Man muss kein „Nahostexperte“ sein, um aber zu erkennen, dass hier wahrscheinlich niemals wieder der alte autoritäre Status Quo und Kontrollwahn der Assad-Herrschaft zurückkehren wird, völlig jenseits der Frage wer den Kampf um Damaskus letztlich irgendwann gewinnen wird.

Trotzdem ist von internationaler Hilfe bislang dort und in den meisten andern befreiten Gebieten Syriens kaum etwas zu verspüren. , auch um der Wasserknappheit und den damit einhergehenden epidemischen Krankheiten entgegenzuwirken. Auch bei der medizinischen Versorgung oder der Wiedereröffnung von Schulen machen sich die westlicher Regierungen bislang sehr rar.

Hier liegt die eigentliche Bigotterie der europäischen Nichtpolitik in Syrien begründet. Während die EU in Brüssel berät, ob und welche Waffen den Rebellen geliefert werden könnten, damit diese dann einen „Sieg“ davontragen; während der BND in Damaskus seinen alten schmutzigen Bande erneuert, um an Ende auch für die mögliche Niederschlagung des Aufstands gewappnet zu sein – wartet in Tall Abyad der „Interimsbürgermeister“ bislang vergeblich darauf, dass ein erster Regierungsvertreter aus dem Westen auch nur das Gespräch sucht, wie beim Aufbau der neuen demokratischen Verwaltung unterstützt werden könnte.

Stattdessen dominiert das allgegenwärtige Politikergerede über Bewaffnung, Sieg oder Niederlage. Das sollte einfach einmal aufhören. Auch wenn viele syrische Oppositionelle gerne westliche Waffenlieferungen hätten, stehen mindest ebenso viele in Syrien dem aus guten Grund skeptisch gegenüber. Einig sind sich aber alle darin, dass eine tatsächliche praktische Unterstützung beim zivilen Aufbau eines neuen Syriens bitter nötig ist. Warum die Menschen auch Monate nach ihrer Selbstbefreiung von Europa allein gelassen werden, ist nicht mehr vermittelbar. Ach ja, das Büro des oben erwähnten Bürgermeisters liegt ca. 800 Meter von der türkischen Grenze entfernt im Ortskern von Tall Abyad. Noch Fragen?

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Dieser Artikel erschien auch am 11.06.2013 in gekürzter Version in der Tageszeitung taz.