Tödliche Schüsse an der türkisch-syrischen Grenze – und was die EU damit zu tun hat

Der EU-Türkei-Deal ist mitverantwortlich dafür, dass Menschen, die vor Folter und Mord fliehen, es kaum mehr aus Syrien heraus schaffen, dass sie an der türkischen Grenze erschossen oder illegal nach Syrien abgeschoben werden. Die EU schweigt zu alledem – nach dem Motto: Hauptsache hier sinken die Asylzugangszahlen.

Ein kleiner Junge liegt auf einer Bahre in einem Krankenhaus in Idlib. Schulter und Brust sind verbunden, aber überlebt hat er die Schussverletzung nicht. Als das Bild von ihm aufgenommen wird, ist er schon tot. Getroffen wurde er Ende Juni 2018, als seine Familie versuchte, aus Syrien über die türkische Grenze zu gelangen. Geschossen haben höchstwahrscheinlich türkische Grenzsoldaten. Der Tod des Kindes, dessen Familie aus dem Ende März vom Assad-Regime eingenommenen Ost-Ghouta nach Idlib zwangsvertrieben wurde, ist kein Einzelfall. Immer wieder sterben Menschen beim Versuch, die an vielen Stellen mit Mauern und Zäunen abgeriegelte syrisch-türkische Grenze zu überwinden. Verlässliche Statistiken gibt es nicht, aber die Opferzahlen könnten mittlerweile dreistellig sein.

Erschossen oder erniedrigt und zurückgeschoben

Schon lange dokumentieren Berichte von Menschenrechtsorganisationen, dass türkische Grenzsoldaten auf Flüchtlinge schießen – zum Beispiel dieser detaillierte Bericht von Mai 2016. Seit dem im März 2016 abgeschlossenen EU-Türkei-Deal, der die Weiterflucht von Schutzsuchenden nach Europa unterbinden soll, hat die Türkei die Grenze zu Syrien immer stärker abgeriegelt. Zu den türkischen Maßnahmen der Flüchtlingsabwehr gehören nicht nur Mauern und Zäune, sondern auch tödliche Gewalt und Misshandlungen.

Eine enge Partnerin von uns, die mit ihrem Mann und ihrem Kleinkind versuchte, die Grenze zu überqueren, berichtet:

Sie schossen wie verrückt, zum Glück nur in die Luft. Aber das Geräusch ließ mich auf einmal mein ganzes Leben hassen und ich wünschte mir, einfach tot zu sein. Wir waren am Fuß eines Hügels, sie waren oben auf dem Hügel. Und sie forderten uns auf, zu ihnen hoch zu kommen. Der Hang des Hügels war rutschig, nass und voller Schlamm. Alle waren schon oben angekommen, außer mir, ich musste stehen bleiben und konnte mich einfach nicht mehr bewegen. Als ich es schließlich nach oben geschafft hatte, kamen zwei Autos und brachten uns zur Polizeistation. Dort nahm uns ein Offizier in Empfang. Er ließ uns draußen im Regen stehen, von 3 Uhr nachts bis 10 Uhr morgens, auch unser Baby. Danach verbot er uns, unsere Kleider zu wechseln. Ich zitterte am ganzen Körper. Sie durchsuchten uns und nahmen uns die Telefone weg. Nach drei Stunden kam der Offizier wieder mit den Telefonen, er hatte nur Shorts an. Er hatte einfach in der Zwischenzeit geschlafen. Am Ende kam jemand vom türkischen Geheimdienst und ließ uns ein Papier unterzeichnen, auf dem stand, dass wir aus freiem Willen aus der Türkei nach Syrien zurückkehren würden. Mein Mann sagte zu ihm, das er nicht unterschreibe. Der Soldat tat einfach so, als würde er ihn nicht hören. Sie fotografierten uns einzeln und brachten uns dann im Auto zum Checkpoint an der Grenze und überwachten, dass wir über die Grenze zurückgehen.“

Adopt a Revolution unterstützt ProjektpartnerInnen, die aus kürzlich vom Regime eroberten Regionen nach Idlib flohen, aber auch dort nicht sicher vor Verfolgung sind. Helfen Sie uns, unsere PartnerInnen auf der Flucht zu unterstützen:

Jetzt Nothilfe für verfolgte AktivistInnen spenden

Verweigerte Registrierung und illegale Abschiebungen

Karte der syrischen Grenze
Der Mauerbau ist weit vorangeschritten. Wie überall ist die Grenze dennoch nicht dicht: Die Fluchtwege werden nur teurer und gefährlicher. Quelle: HRW

Erst am Montag erschien ein weiterer Bericht von Human Rights Watch zur Situation von Flüchtlingen an der türkisch-syrischen Grenze. Aus dem geht hervor, dass mittlerweile einem großem Teil der Flüchtlinge, die es aus Syrien in die Türkei schaffen, die Registrierung verweigert wird. Wer nicht registriert ist, hat keinen regulären Zugang zu medizinischer Versorgung, zu Bildung oder zum Arbeitsmarkt und kann sich in der Türkei nicht frei bewegen. Vor allem aber bleiben die Betroffenen rechtlich gesehen schutzlos, ihnen drohen illegale Abschiebungen nach Syrien. Ziel ist es Flüchtlinge zu entmutigen und zur „freiwilligen“ Rückkehr nach Syrien zu bewegen. Der Bericht enthält auch Zeugenaussagen mehrerer Geflüchteter, die ihren Angaben nach aus der Türkei nach Syrien zurückgeschoben wurden.

Vorgestern Nacht hat uns die türkische Armee zum dritten Mal aufgegriffen, als wir versuchten, die Grenze zu überqueren. Sie haben mich, meine schwangere Frau und meine Tochter bis gestern Nachmittag da behalten. Dieses Mal war die Behandlung sehr schlecht, die türkische Armee hat uns nicht nichts zu Essen oder zu Trinken gegeben. Nicht einmal ein Glas Wasser. Meiner Frau geht es sehr schlecht jetzt, ich musste sie ins Krankenhaus bringen. Dort stellte sich raus, dass sie eine Nierenentzündung hat und dass sich das auch auf den Gesundheitszustand des Embryos ausgewirkt hat.“

O., langjähriger Partner von Adopt a Revolution, der in einem unserer Projekte in Ost-Ghouta tätig war.

Bereits im März berichtete Human Rights Watch ausführlich über illegale Massenabschiebungen aus der Türkei nach Syrien. Solche Push Backs verletzen den Kern der Genfer Flüchtlingskonvention, das sogenannte Refoulement-Verbot: Kein Staat darf Personen in Staaten zurückführen, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Dieser Rechtsgrundsatz bindet auch Drittstaaten wie im konkreten Fall die Staaten der EU: Sie dürfen nicht in Staaten abschieben, die die Betroffenen in andere Staaten abschieben könnten, in denen diesen Folter oder unmenschliche Behandlung droht. Vor diesem Hintergrund widerspricht der EU-Türkei-Deal eklatant internationalem Recht: Die Türkei ist kein „sicherer Drittstaat“, in dem Geflüchtete vor Refoulements sicher wären.

Sado war einer der Bewohner des Yarmouk-Camps. Nachdem das syrische Regime die Zwangsumsiedlung der BewohnerInnen aus Yarmouk beschlossen hatte, entschied er, in die nördlichen Gebiete des Gouvernorats Aleppo zu gehen. Dort verbrachte er zwei Tage in einem Flüchtlingscamp. Die Situation dort war extrem schlecht und er konnte an nichts anderes mehr denken, außer, dass er es irgendwie in die Türkei schaffen muss. (…) Es gibt keinen legalen Weg. (…) Der Schmuggler bringt einen bis zu einem bestimmten Punkt und von dort aus muss man zu Fuß weiter. Die Strecke ist mehrere Kilometer lang und sehr schwer für die Flüchtenden, denn man ist auf sich allein gestellt. Auf dieser Strecke schoss die türkische Grenzpolizei auf ihn. Er wurde ins Gesicht getroffen und starb direkt.“

Voicemail von A., einem engen Partner von Adopt a Revolution.

Die Fluchtgründe: Assad-Regime und radikalislamistische Milizen in Idlib

Obwohl die Flucht über die Grenze nur mit Hilfe teurer Schmuggler möglich und nur unter Lebensgefahr zu bewältigen ist, versuchen weiterhin zahlreiche Menschen, sich in die Türkei zu retten. Grund dafür ist unter anderem die Situation in Ildib im Norden Syriens an der Grenze zur Türkei. Seitdem mehrere ehemals von oppositionellen Milizen kontrollierte Regionen vom Assad-Regime und seinen Verbündeten eingenommen wurden, wurden dorthin insgesamt rund 120.000 Menschen „evakuiert“ – beziehungsweise dorthin zwangsvertrieben.

Fluchtbewegungen Richtung Idlib vom 1. April bis 30. Juni. Quelle: UNHCR.

Ende März 2018 betraf dies Zehntausende Menschen aus Ost-Ghouta, später aus der Region Homs, aus den südlichen Vororten von Damaskus und mittlerweile auch aus Daraa in Südsyrien. Menschen, die wissen oder befürchten müssen, dass sie auf den langen Fahndungslisten des Assad-Regimes stehen, blieb angesichts des Vormarsches des Regimes und seiner iranischen und russischen Verbündeten kaum eine andere Wahl, als sich aus diesen Regionen im Rahmen von Abkommen zwischen Regime und Milizen nach Idlib abtransportieren lassen. Das trifft insbesondere auf zivile AktivistInnen zu, unter anderem alle engeren PartnerInnen von Adopt a Revolution.

Die Binnenvertriebenen leben in Idlib unter teils katastrophalen Umständen. Ein großer Teil lebt in Flüchtlingslagern. Darunter sind auch inoffiziellen Flüchtlingslager, in denen es an allem mangelt: An wetterfesten Behausungen, an ausreichend Nahrung und an sauberem Trinkwasser. Erst vor kurzem kündigten die USA an, die Unterstützung für in Idlib tätige humanitäre Organisationen einzustellen, was die humanitäre Notlage der Binnenvertriebenen eklatant zu verschärfen droht.

Zur mangelnden Versorgung kommt der Terror von bewaffneten Gruppen, unter anderem von der Al-Qaida-nahen Miliz Hayyat Tahrir Al-Sham (HTS), früher unter dem Namen Nusra-Front bekannt. Die Miliz geht gezielt gegen KritikerInnen vor und ist poetentiell für alle Menschen gefährlich, die nicht in deren streng islamistischen Weltbild passen. Insbesondere zivile AktivistInnen, die sich in der Vergangenheit etwa in Ghouta oder anderen Regionen kritisch gegenüber HTS geäußert haben, müssen an jedem Checkpoint fürchten, festgenommen, gefoltert oder auch getötet zu werden. Dazu kommen regelmäßige Luftangriffe des Assad-Regimes und seiner Verbündeten, die immer wieder auch der zivilen Infrastruktur gelten.

Schon jetzt ist der Druck auf die syrisch-türkische Grenze hoch. Sollte sich das Assad-Regime von der Türkei nicht davon abhalten lassen, die letzte von oppositionellen Milizen gehaltene Region Idlib zu erorbern, würde dies vermutlich zu einem Massenflucht Richtung türkische Grenze führen.

Abschottungspolitik der EU trägt zu weiterer Destabilisierung der Region bei

Die Türkei hat bereits über 3,5 Millionen syrische Flüchtlinge und hat damit in absoluten Zahlen gerechnet weltweit die meisten Flüchtlinge überhaupt aufgenommen. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl gesehen ist in der Türkei jeder 23. Einwohner ein Flüchtling, in Jordanien ist es jeder 14., im Libanon sogar jeder sechste. Und die Fluchtbewegungen sind nicht vorbei. Nach Angaben des UNHCR mussten in Syrien in den letzten zwölf Monaten insgesamt über 1,2 Millionen Menschen fliehen. „Es ist nicht vorbei, und was ich befürchte ist, dass die Menschen denken könnten, es sei vorbei“, sagte im Mai der frühere UN-Nothilfekoordinator Jan Egeland, insbesondere mit Hinblick auf die Situation in Idlib.

Bei meinem letzten Besuch im Süden der Türkei traf ich den Aktivisten F. aus Menbej, der extra für das Treffen über die Grenze gekommen war. Er kam verspätet, denn er musste sich erst Schuhe kaufen, seine hatte er beim Rennen über den Grenzestreifen verloren – doch zurückgehen, um sie zu holen, konnte er nicht: Die Grenzposten waren in der Nähe und drohten, auf ihn und seine kleine Gruppe zu schießen.
Ferdinand Dürr, Mitarbeiter von Adopt a Revolution

Die EU hat mit dem EU-Türkei-Deal und weiteren Maßnahmen inzwischen dafür gesorgt, dass die Zahl der Asylsuchenden in Europa gesunken ist. Das heißt zugleich, dass die Zahl der Flüchtlinge in den Nachbarstaaten weiter ansteigt und dass die Nachbarstaaten immer brutalere Methoden wählen, um sich ihrerseits abzuschotten. Die tödlichen Schüsse und die illegalen Zurückweisungen nach Syrien durch die türkischen Behörden sind nicht mit dem Hinweis auf die EU-Politik zu rechtfertigen. Von Europa aus die Menschenrechtsverletzungen gegenüber SyrerInnen in der Türkei anzuprangern, wäre angesichts des EU-Türkei-Deals gleichwohl lächerlich.

Die Folgen der europäischen Abschottungspolitik lassen sich in der Türkei und auch in den anderen Nachbarstaaten kaum durch von Europa gewährten finanziellen Hilfen kompensieren. Vielmehr sind Vereinbarungen wie der EU-Türkei-Deal geeignet, die Situation in der Region weiter zu destabilisieren: Wer andere Staaten als Türsteher einspannt und sie damit zu Menschenrechtsverletzungen einlädt, fördert damit zwangsläufig autoritäre Tendenzen, die sich auch im Inneren dieser Staaten niederschlagen können. Auch wenn der EU-Türkei-Deal kein zentraler Faktor dafür ist, dass sich die Türkei unter Erdogan Richtung Diktatur entwickelt, hat er diese Entwicklung doch zumindest begünstigt. Erste mögliche Folgen dieser Entwicklung zeichnen sich ab: Die Zahl der Asylanträge türkischer Staatsangehöriger in Deutschland steigt seit 2015, im Juni 2018 war die Türkei zwischenzeitlich sogar in der Liste der Herkunftsländer auf Platz drei – nach Syrien und Irak.

Zahlreichere ProjektpartnerInnen von Adopt a Revolution sind derzeit zur Flucht gezwungen. Wir stehen ihnen mit einem Notfallsfonds bei. Solidarische Unterstützung endet nicht, wenn ein Projekt zu Ende geht. Helfen Sie mit einer Spende für den Notfallsfonds, damit sich unsere PartnerInnen in Sicherheit bringen können.

Jetzt Nothilfe für verfolgte AktivistInnen spenden

Herzlichen Dank!