Ich lasse mich aufs Sofa fallen. Mein Körper bebt heftig. Im verzweifelten Versuch mich zu beruhigen, schließe ich meine Augen. Ein Gefühl der Machtlosigkeit überkommt mich und ich versuche nicht ihm zu widerstehen. Meine Stimme überschlägt sich.
Kapitulation bringt für gewöhnlich ein merkwürdiges Gefühl des Trostes. Stunden später kann ich mich wieder bewegen und so versuche ich meinen Schmerz zu zerstreuen, indem ich eine Nachricht meiner Schwester lese, die mich darüber informiert, dass ich sie nun anrufen kann. Ich weiß, dass ich nicht werde reden können, dennoch nehme ich das Telefon und wähle die Nummer. Ich weine – es ist das erste Mal seit zwei Jahrzehnten, dass ich diese komischen Geräusche von mir gebe.
Die Stimme meiner Mutter raubt mir jede Fähigkeit zu kommunizieren. „Weine nicht“, tröstet mich meine Mutter, die ich ob meiner Schluchzer nicht verstehe. Nach mehreren Anläufen schaffe ich es die Unterhaltung zu beenden. „Ich melde mich später, ich kann jetzt nicht reden.“
Indem ich meine Augen schließe, schaffe ich es erneut zu entfliehen. Nach einigen Minuten schaffe ich es, das Zittern zu stoppen, wenn auch nur für den Moment.
—
Ich kann nicht glauben, was ich lese
Der Wecker klingelt, es ist 8 Uhr 30 morgens. Mit einer routinierten Bewegung stelle ich mein Telefon stumm. Träge blicke ich auf den Bildschirm. Eine Person, die ich kaum kenne, hat mir eine Nachricht geschickt. „Mein Beileid. Möge die Seele deines Bruders Ahmad in Frieden ruhen.” Ich beginne heftig zu atmen. Ich lese die Nachricht erneut und kann nicht glauben, was ich lese. Mit zitternden Händen gelingt es mir den Namen meines Bruders zu tippen, um die Nachricht zu bestätigen. Die Kunde wird auf diversen Facebook-Seiten verbreitet, begleitet von einem Foto meines lächelnden Bruders. Er ist tot.
Üblicherweise suche ich Zuflucht im Schlaf oder indem ich meine Augen schließe, um so Depression, Traurigkeit oder Tod zu entgehen. Man sagt, dass Weinen dabei hilft zu schlafen. Unsere Nachbarn schlugen ihre Kinder, damit sie einschliefen. Ich weinte viel und schaffte es nicht zur Ruhe zu kommen. Vielleicht war es die Angst vor der Mutter, die die Kinder unserer Nachbarn schlafen ließ. Ich sollte nach Furcht suchen, um schlafen zu können.
Ich schaue mir die Bilder an, die mir meine Schwester geschickt hat. Die Augen meines Bruders sind geschlossen. Granatsplitter stecken in seinem Gesicht. Eine schwerere Verletzung ist auf seiner rechte Wange zu erkennen. Vielleicht rührt sie von einem größeren Schrapnell. Ich weiß nicht, ob es noch in ihm steckt. Seine Lippen sind blau, obwohl er nur seit wenigen Stunden tot ist. Ich weiß nicht genug über den Tod, um zu wissen warum seine Lippen blau sind.
“Kaum hatte ich den Krankenwagen gehört, wusste ich in meinem Innern, dass es Ahmad ist”, sagte mir meine Mutter am Telefon. „Ich legte meine Wange an seine Wange. Oh, mein Herz! Sein Körper war gänzlich von Splittern durchbohrt. Ich wollte nicht, dass die anderen ihn sehen.“
Später erzählte mir meine Mutter, dass es eine Mörsergranate gewesen war, die ihn getötet hatte. Oder vielleicht ein Panzer. Ich versuche mir die Szene vorzustellen, um all die Trauer zu erhaschen, die jedes einzelne Mitglied meiner Familie in diesem Moment gespürt haben muss. Vor allem meine Mutter, mein Vater und die Frau meines Bruders. Trauer ist, wie der Tod, vorstellbar. Aber unmöglich nachzuempfinden.
Meist obsiegen die Traurigkeit und das Schlechte
Ich versuche andere Bilder meines Bruders auf meinem Telefon zu finden. Sehr erfolgreich bin ich nicht, weil ich es nicht mag, Bilder zu speichern. Ich finde ein sehr kurzes Video, das er mir geschickt hat, bevor er starb. Darin ist er mit seiner Tochter Zeina zu sehen, die keine vier Jahre alt ist. Sie essen um die Wette Süßigkeiten. Mein Bruder gewinnt und fordert seine Tochter auf, seine rechte Wange zu küssen, dann hält er die andere Wange hin, und fragt nach einem weiteren Kuss. Ich spule das Video zurück, um sein Lachen noch einmal zu hören. Ich lache lieber mit ihm, als wegen ihm zu weinen, doch es scheint so, als ob die Traurigkeit, wie auch das Schlechte, meist obsiegt.
Mein Bruder und ich ähneln uns darin, dass wir Geplauder vermeiden. Doch meine unregelmäßigen Besuche in Syrien über die letzten Jahre haben mir eine andere Seite seiner Persönlichkeit gezeigt. Ich erinnere mich, dass er einmal aus dem Hinterhalt von einem Armeekonvoi angegriffen wurde. Er begann auf einen der Panzer zu schießen, der an der Spitze des Konvois fuhr, und der Panzer feuerte auf ihn. Glücklicherweise verfehlte er sein Ziel und hinterließ nur eine Staubwolke. Erst Momente später erkannte er, dass es ein ganzer Konvoi war. Er packte sein Maschinengewehr und schoss wieder. Sie scherten sich nicht genug um einen einzigen Irren, der ihre gepanzerten Fahrzeuge zu treffen versuchte. Ich weiß nicht viel über Waffen, nur über das, was sie anrichten. Doch ich war froh, dass er diesen Tag überlebte.
Die Unzufriedenheit meines Bruders mit den militanten Oppositionsgruppen ließ ihn das Kämpfen für lange Zeit aufgeben. Doch wenn seine Freunde Hilfe benötigten, sprang er ein. Seine letzte Schlacht war die um Aleppo. Es war der Versuch, die Belagerung der Stadt zu durchbrechen, in der meine Schwester lebt.
Angst vor jedem plötzlichen Anruf
Mein anderer Bruder tröstete sich damit, dass er mir sagte, Ahmad sei auf seine Art gestorben – bei der Verteidigung seines Traums. Er sagte mir, dass es lohnender und weniger schmerzhaft für ihn gewesen sei, als von einer Fassbombe in seinem Haus getötet zu werden. Mein Bruder starb, weil er fähig war zu träumen. Das wiederholte ich immer wieder in meinem Kopf, hunderte Male. Doch das ändert nichts an der Wahrhaftigkeit des Schmerzes. Er schert sich ebenso wenig um Logik wie der Tod.
In den letzten Jahren habe ich viele solcher Anrufe erhalten. Sie setzten mich über die Entführung meines Cousins vor über drei Jahren in Kenntnis, über den Tod meines Bruders, den Tod des jüngsten Sohnes meiner Schwester, den ich nie getroffen habe und den Tod vieler weiterer Freunde und Verwandter. Entsprechend geht jeder Form des plötzlichen Kontakts mit meiner Familie Furcht voraus. Diese Angst verringert sich nicht mit der Zeit oder durch Wiederholung. An diese Angst gewöhnt man sich ebenso wenig wie an den Tod.
Manchmal fragt man mich darüber aus, was ich angesichts der gefährlichen Lage meiner Familie in den Gebieten außerhalb der Kontrolle des Regimes in Aleppo fühle.
Das systematische Bombardement von Zivilisten in diesen Gebieten mit jeder nur erdenklichen Waffe machen es wahrscheinlich, dass ein Verwandter oder die ganze Familie mit einem Mal sterben. Ich bleibe dann für eine Weile ruhig, dann antworte ich, dass die Situation mich erschreckt. Es gibt keine Antwort, die fähig wäre meine Gefühle zusammenzufassen. Ich warte auf die Vollstreckung des Todesurteils meiner Familie. Ein Urteil, dessen Details mir noch nicht einmal bekannt sind.
Ich kenne weder die Todesursache noch die Person, die sterben wird oder wie viele. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass jedes Gespräch mit meiner Familie das Letzte sein könnte. Ich kann das weder akzeptieren noch mich dem verweigern. So sind jetzt unsere Leben.
—
Der Artikel erschien zuerst auf der Website des Atlantic Council und wurde hier mit freundlicher Genehmigung des Autors ins Deutsche übertragen. Haid Haid ist ein syrischer Autor und Analyst, schwerpunktmäßig setzt er sich mit Außen- und Sicherheitspolitik, Konfliktbewältigung sowie kurdischen und islamistischen Bewegungen auseinander. Er twittert unter @HaidHaid22