Liest man Leserkommentare auf den Seiten großer deutscher Tageszeitungen, trifft man vor allem auf große Verwirrung und Unwissen über den Syrien-Konflikt. Daher soll hier zunächst eine hervorragende Konflikt-Analyse erwähnt werden, die letzte Woche von der Friedrich-Ebert-Stiftung publiziert wurde. Autorin ist Friederike Stolleis, sie leitet das FES-Büro im Libanon und hat lange Jahre in Damaskus gelebt und gearbeitet. Stolleis erklärt, warum die Assad-Regierung mit dem islamistischen Terror „durch eine enge Interessenkonvergenz ursächlich verbunden” ist, und wie es kommt, dass Assad nach dem Chemiewaffen-Angriff sogar neue internationale Legitimität erringen konnte. Das Paper ist Pflichtlektüre für alle Syrien-Interessierten, vor allem für deutsche ‘Linke’, die immer noch an verschwurbelte Verschwörungen gegen Assad glauben. Natürlich ist Syrien inzwischen ein Stellvertreterkrieg für regionale und internationale Machtinteressen. Doch weder hat sich das gesamte Land in ein Al-Qaeda-Trainingslager verwandelt noch werden Islamisten durch einen teuflischen Plan der USA systematisch unterstützt, um Assad zu stürzen. Stattdessen lässt sich am Fortschreiten des Konfliktes vor allem das Desinteresse der Großmächte ablesen, mit Nachdruck an einer politischen Lösung zu arbeiten und endlich humanitäre Hilfe für ZivilistInnen durchzusetzen, argumentiert Stolleis.
Ansonsten gab die Nachrichtenlage zu Syrien diese Woche sehr wenig Anlass zur Hoffnung. Während die politischen Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition in Genf ohne jegliches konkretes Resultat zu Ende gingen, fiel in Syrien eine schreckliche Anzahl von Bomben auf dicht besiedelte Stadtgebiete. Die FAZ dokumentierte das deprimierende Schlusswort des UN-Vermittlers Brahimi, in dem er bedauerte, dass noch nicht einmal eine Vereinbarung für die Lieferung von Hilfsgütern getroffen werden konnte; ein weiterer FAZ-Artikel zum Thema ist hier zu finden. Syrische und internationale Nachrichtenagenturen berichteten von der Bombardierung Aleppos durch sogenannte Fassbomben und Scud-Missiles, hier z. B. die BBC, mit grauenhaften Fotos der Trümmer und verschütteter Menschen. Die Webseite des Syrian Observatory for Human Rights berichtete von vielen weiteren Bombardierungen und bewaffneten Kämpfen auch in Damaszener Vorstädten und Homs. Die englische Zeitung The Independent veröffentlichte Satellitenbilder, die die Zerstörung verschiedener syrischer Städte dramatisch verdeutlichen – sie erinnern an die Bilder der deutschen Trümmerstädte nach 1945.
Die Zersplitterung der islamistischen Terrorgruppen in Syrien (und in der gesamten Region der Levante) verdeutlichte sich diese Woche, wie die FAZ berichtete. Der Al-Qaeda-Anführer Zawahiri bekräftigte, dass die Al-Nusra-Front der einzige wahre Al-Qaeda-Spross in Syrien sei, während die ISIS-Truppe in keinerlei Verbindung mit dem internationalen Netzwerk stünde und Al-Qaeda keine Verantwortung für ISIS-Aktivitäten trage. Gerne übernahm Zawahiri offenbar die Verantwortung für den Bombenanschlag im Libanon, zu dem sich die Nusra diese Woche bekannte und bei dem vier Menschen starben, siehe z. B. AlJAzeera. Der Selbstmordanschlag sollte Vergeltung für Hizbollahs Teilnahme an Kämpfen in Syrien üben, und verdeutlicht, wie sehr sich religiös-sektiererische Motivationen inzwischen mit politischen Zwecken im Syrienkonflikt vermischen. Libanon wird immer mehr in den Krieg hineingezogen; offenbar ist es für die (sunnitische) Nusra-Front interessanter, die (schiitische) Hizbollah anzugreifen als die direkte Konfrontation mit Assads Truppen zu suchen.
Zu den Themen Syrien und Fanatismus äußerte sich diese Woche auch der iranische Aussenminister Zarif, in einem Interview mit der FAZ. Zarif etabliert in dem Interview die übliche Drohkulisse, die auch Assad stets verwendet, in dem er davor warnt, dass sich religiös-terroristische Gewalt von Syrien nach Europa ausbreiten werde. Zusätzlich bietet das Interview einen guten Überblick über die offizielle iranische Argumentation und Haltung zur Diplomatie um Syrien.
Ein in seiner Lakonie und Depression bewegender Artikel über den Alltag in Damaskus erschien in der TAZ. Der Schriftsteller Khaled Khalifa schildert seinen Tagesablauf sowie die müden Gedanken, die ihn dabei begleiten. „Wer fordert Rechenschaft, wenn sie uns als eine Ansammlung von Stämmen, Clans und Religionsgemeinschaften sehen?” fragt Khalifa, und antwortet selbst: niemand. Ebenfalls Pflichtlektüre, auch wenn sie einen leer zurücklässt.
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