Zwischen dem 23. und 26. Dezember flogen türkische Kampfflugzeuge und Drohnen 74 Angriffe auf die kritische Infrastruktur Nord- und Ostsyriens (medizinische Einrichtungen, Kulturgüter, Wasser- und Lebensmittelversorgung), was international als Kriegsverbrechen gilt. Die Bombardierungen hielten in minderer Intensität bis zum 30. Dezember 2023 an. Das türkische Verteidigungsministerium bezeichnete die Angriffe als „Vergeltung“ für den Tod mehrerer türkischer Soldaten bei Guerilla-Aktionen in der Kurdistan-Region des Iraks (KRI).
Die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) veröffentlichten eine Jahresbilanz, wonach die Türkei 2023 den Nordosten Syriens 798 Mal angegriffen hat, davon in 103 Fällen mit Kampfjets und Drohnen. Bereits Anfang Oktober 2023 hatte die Türkei innerhalb weniger Tage große Teile der zivilen Infrastruktur zerstört, dabei 92 Menschen getötet und 89 Menschen verletzt. Zu den Zielen gehörten Wasserwerke, Ölraffinerien, Elektrizitätswerke, aber auch Geflüchtetencamps und Krankenhäuser. Die Reparaturarbeiten hatten gerade erst begonnen, aber es mangelte nach wie vor an Wasser, Elektrizität und Gas.
Die Zivilbevölkerung in Nord- und Ostsyrien hat nichts mit den Kämpfen der Guerilla im Irak gegen die zunehmende Okkupation irakischen Territoriums durch die Türkei zu tun.
Die Angriffe haben dramatische Folgen: Angesichts des umfassenden Embargos gegen Nord- und Ostsyrien sind zerstörte bzw. beschädigte Kraftwerke, Fabriken, Nahrungsmitteldepots und vor allem medizinische Einrichtungen nicht zu ersetzen.
Auch von deutschen NGOs getragene Einrichtungen zerstört
Das durch die Angriffe vollkommen zerstörte Kobani Medical Center umfasste eine kostenlose Notfallambulanz für die Stadtbevölkerung, eine Ambulanz für Diabetiker*innen und ein Kinderimpfzentrum. Der deutsche Verein “Armut und Gesundheit” hat es zusammen mit „Ärzte ohne Grenzen“ gegründet und trägt die laufenden Kosten. Nach den schweren Erdbeben im Februar 2023 wurde es u. a. mit Spendengeldern der „Kinderhilfe Mesopotamien e.V.“ und der „Initiative Kölner Helfen“ wieder Instand gesetzt.
In Qamishlo wurde ein Behandlungszentrum für Dialyse-Patienten und eine Produktionsstätte für medizinischen Sauerstoff zerstört, die auch mit Spendengeldern von deutschen Organisationen errichtet wurden. Die Mobile Klinik der Städtepartnerschaft Friedrichshain-Kreuzberg – Dêrik e.V., die gemeinsam mit der Frauenstiftung WJAS für Frauen und Kinder im Umland von Dêrik betrieben wird, musste aufgrund der Angriffe ihre Arbeit erneut vorübergehend einstellen, um nicht selbst zum Ziel türkischer Drohnen zu werden. Ein von der „Initiative für Frieden und Hoffnung in Kurdistan“ und anderen deutschen Initiativen initiiertes Bildungsprojekt für behinderte Kinder und Jugendliche in Kobanê musste die Arbeit unterbrechen, weil die Kinder und das Personal evakuiert werden mussten. Mediziner*innen der Internationalen Nothilfe IEH aus Europa können wegen der anhaltenden Angriffe vor Ort keine medizinische Hilfe leisten. 712 grenznahe Schulen wurden geschlossen, 90.000 Schüler*innen sind davon betroffen.
Die Türkei initiiert neue Fluchtbewegungen
Die multiethnische und multireligiöse Bevölkerung vor Ort, die sich seit Jahren nach demokratischen, ökologischen und feministischen Werten selbstverwaltet, verliert durch die dauernden Angriffe der Türkei jede Sicherheit und Stabilität. Die Menschen dort, die in unser aller Interesse den IS besiegt haben, stehen heute unter ständiger Bedrohung und haben keinerlei Mittel, sich gegen die allgegenwärtigen Drohnen und die Kampfflugzeuge zu verteidigen. Die ökonomische Basis bricht zusammen, von wirtschaftlicher Entwicklung ganz zu schweigen. Nord- und Ostsyrien hat sich seit über einem Jahrzehnt zu einer Demokratie mit starken Frauen- und Minderheitenrechten entwickelt.
Nachdem der Islamische Staate (IS) zu großen Vertreibungen aus der Region geführt hatte, ist es nun die Türkei, die neue Flüchtlingsströme zu verantworten hat. Die vielen intensiven Bombardierungen, sowie die Besetzungen von Teilen Nordsyriens durch die Türkei haben zu neuen Fluchtbewegungen – auch nach Europa – geführt. Allein am 24. Dezember 2023 flohen mehrere hundert Menschen über die Grenze in den Nordirak.
Deutschland sollte im eigenen Interesse Fluchtursachen bekämpfen und den Menschen Stabilität, Sicherheit und eine Perspektive in ihrer Heimat Nord- und Ostsyrien ermöglichen. Darum muss die Bundesregierung die Bombenangriffe des NATO-Partners Türkei auf die zivile Infrastruktur klar verurteilen. Lassen Sie Erdoğan nicht einfach gewähren, wenn er die Region weiter destabilisiert: Denn die Intention der türkischen Regierung ist es, durch die fortdauernden Angriffe und Zerstörungen die dort ansässige Bevölkerung zu zermürben, zur Flucht zu zwingen, um letztendlich durch eine dauerhafte Änderung der Bevölkerungsstruktur zugunsten der Türkei eine Ausweitung des türkischen Staatsgebiets auf die von Erdoğan angestrebte „Sicherheitszone“ zu erreichen. Dabei gibt es bisher keinen Hinweis, dass Angriffe aus Nord- und Ostsyrien auf die Türkei jemals stattgefunden haben.
Uns als in Nord- und Ostsyrien tätige deutsche NGOs und Einzelpersonen ist es wichtig, dass die
Bundesregierung sich deutlich zu den türkischen Angriffen äußert.
Daher fordern wir:
- Eine Verurteilung der Angriffe auf die Infrastruktur & Zivilbevölkerung durch die Außenministerin und die Bundesregierung
- Schnelle Hilfe für Wiederaufbaumaßnahmen der zerstörten Infrastruktur durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Gebiet der Selbstverwaltung
- Freigabe von BMZ-Mitteln auch für uns als kleine NGOs
- Einsatz bei der NATO und dem UN-Sicherheitsrat für eine Flugverbotszone gegen die Türkei über Nord- und Ostsyrien sowie den Nordirak und das ezidische Siedlungsgebiet in Shengal
- Keine Waffenlieferungen oder Drohnenkomponenten an die Türkei
Unterzeichnende Organisationen (in alphabetischer Reihenfolge):
Adopt a Revolution
Akram Naasan: Arzt für Notfallmedizin
Dialogkreis e.V.
Dr. Michael Wilk: Notarzt, Psychotherapeut
Gesellschaft für bedrohte Völker e.V. (GfbV)
Initiative für Frieden und Hoffnung in Kurdistan e.V.
Initiative Kölner helfen
Internationale Nothilfe (IEH)
Kinderhilfe Mesopotamien e.V.
Kölner Spendenkonvoi e.V.
medico international
Projekt für Bildung e.V.
Städtefreundschaft Frankfurt – Kobanê e.V.
Städtepartnerschaft Friedrichshain-Kreuzberg – Dêrik e.V.
Städtepartnerschaft Köln – Qamishlo
Städtepartnerschaft Oldenburg – Raqqa e.V.
Verein Armut und Gesundheit e.V.
Welle – Zentrum für Traumapädagogik
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