Diese Woche ist Syrien aufgrund akuter internationaler Sorgen um die regionale Stabilität in Nahost in die Schlagzeilen zurückgekehrt. Am Dienstag erschütterten zunächst Nachrichten aus Aleppo die Welt. Im Viertel Bustan al-Qasr, das von der Opposition gehalten wird, wurden an die 100 Leichen junger Männer im Flussbett gefunden (s. New York Times). Die Männer zwischen 20 bis 40 Jahren wiesen Kopfschüsse auf und waren z.T. gefesselt, die Opposition spricht daher von einem Massaker durch das Regime. Dieses gibt seinerseits z.B. per Nachrichtenagentur SANA der Jabhat al-Nusra die Schuld an der Massenexekution. Laut SANA-Version wurden die Männer entführt und umgebracht, weil sie sich weigerten, Jabhat al-Nusra zu helfen. Es gibt u.a. hanebüchene Ausreden: Die Wasserhöhe des Flusses sei viel zu gering und die Strömung nicht stark genug, um Leichen zu bewegen. TIME hat eine Fotoreihe namens „Aleppo’s River of Death“ zusammengestellt, die mit den Augenzeugenberichten zweier westlicher Fotografen ergänzt ist. Die meisten Opfer seien Anwohner oppositioneller Gebiete gewesen und in von der Regierung gehaltenen Gebieten verschwunden. In Bustan al-Qasr finden jeden Freitag lebhafte Proteste statt, z.B. dieser vor zwei Wochen, auch heute wurde schon demonstriert.
Am Mittwoch fand eine UN-Geberkonferenz für Syrien statt, bei der der Bedarf von 1,5 Milliarden Dollar gesammelt werden konnte, wie das UN News Centre schreibt. Ban Ki-moon appellierte erneut an die Konfliktparteien, denn allein humanitäre Hilfe löse den Konflikt nicht: „‘I appeal to all sides, and particularly the Syrian Government, to stop the killing. In the name of humanity: stop the violence.‘” Laut UN-Nothilfekoordinatorin Valerie Amos sind 519 Mio. $ für Nothilfe in zehn Sektoren Syriens veranschlagt. Hilfsarbeiten in Syrien seien schon im Gange, jedoch gibt es viele Schwierigkeiten, v.a. der Zugang zu Oppositions- oder umkämpften Gebieten gestalte sich schwierig. Laut tagesschau hat Lakhdar Brahimi zudem an den Sicherheitsrat appelliert: „Das Land bricht vor aller Augen Stück für Stück auseinander. Die Tragödie muss ein Ende finden.“ Er forderte, den 2012 in Genf erarbeiteten Plan zur Friedenslösung zu unterstützen.
Mit der komplizierten Situation der Hilfslieferungen nach Syrien beschäftigt sich Syria Deeply. Während es ca. 600.000 Flüchtlinge außerhalb Syriens gibt, sind 2,5 Mio. Binnenflüchtlinge in Syrien auf Hilfe angewiesen. Auch wenn die Hilfszusagen der internationalen Gemeinschaft erfreulich sind, wird in Syrien nur Wenigen Hilfe zukommen, so Barak Barfi. Denn die meisten NGOs dürfen in Syrien wegen fehlender Genehmigungen der Regierung gar nicht arbeiten. So liegt die Last bei den ca. 10 autorisierten Organisationen. Die Hilfsarbeit wird einerseits erschwert durch die unsichere Lage. Doch das Hauptproblem liegt in der Struktur des autoritären Staates: es gibt keine syrischen zivilrechtlichen Organisationen. Die vorhandenen Organisationen sind mit der Regierung eng verbunden. So ist Hilfe für Bedürftige in Rebellengebieten nahezu ausgeschlossen, dabei sind die oppositionellen Regionen Idlib und Aleppo am wenigsten von internationaler humanitärer Hilfe erreicht. Der Bedarf ist riesig, Hilfe könnte über die türkische Grenze kommen. Ohne Genehmigung der syrischen Regierung geht allerdings nichts. Abhilfe für diese strukturellen Probleme ist kaum in Reichweite, sodass die Geberkonferenz in Kuweit für Syrer kaum Abhilfe schafft.
Am Mittwoch griff Israel zum ersten Mal offen in den Konflikt in Syrien ein – wobei niemand genau weiß, was Israel angegriffen hat. Wie die NZZ schreibt, behauptet Syrien, dass ein militärisches Forschungszentrum bei Damaskus von den Israelis angegriffen wurde. Andere Meldungen – wohl gestützt auf anonyme Quellen – berichteten, dass Waffentransporte nach Libanon bombardiert wurden. Diese hätten wohl Abwehrraketen an die Hisbollah liefern sollen. Israel selbst kommentiert solche Angriffe nie. Der syrische Botschafter in Libanon hat Israel prompt mit einer möglichen Vergeltung gedroht, der Iran ebenfalls. Unklar ist, ob die syrische Armee in der derzeitigen Lage überhaupt militärisch zu Aktionen gegen Israel in der Lage ist, wie die heutige SZ kommentiert (Printausgabe). Nichtsdestotrotz: Die NZZ sieht einen gefährlichen Präzendenzfall. Ein dauerhaftes Eingreifen Israels in den Konflikt könnte eine direkte Eskalation der verschiedenen Regionalmächte bewirken.
Am heutigen Freitag beginnt die jährliche Sicherheitskonferenz in München, im Zentrum der Tagung steht auch Syrien. Wie Reuters berichtet, trifft sich US-Vizepräsident Joe Biden mit dem Vorsitzenden der oppositionellen Nationalkoalition (NC), Muaz al-Khatib. Anschließend werde es Samstag wohl ein Vierer-Treffen zwischen Biden, Russlands Außenminister Lawrow, Lakhdar Brahimi und al-Khatib geben. Es wäre das erste Treffen in dieser Konstellation. Russland habe sich wohl wegen al-Khatibs Vorstoß dazu entschlossen. Die NYT schreibt, al-Khatib sei unter Bedingungen zu Gesprächen mit Vertretern des Regimes bereit – allerdings nur im Ausland. Die zwei Bedingungen: die Freilassung 160.000 Gefangener und die Erneuerung der Pässe von Exilsyrern, ohne die eine Rückkehr nach Syrien nicht möglich ist. Al-Khatibs Vorschlag ist wohl ein Alleingang und es hagelte prompt Kritik aus der Opposition. Das syrische Regime hat auf die Offerte bislang nicht reagiert, politische Experten glauben auch nicht an eine Bereitschaft Assads – er möchte nicht schwach erscheinen.
Qantara hat ein Interview mit Pater Paolo dall’Oglio geführt, der im Juni 2012 wegen seiner Kritik am Regime nach 30 Jahren aus Syrien ausgewiesen wurde. Im Interview spricht Pater Paolo (wie ihn viele Aktivisten nennen) über das Zusammenspiel von Regimepropaganda und fehlendem Handeln der internationalen Gemeinschaft. Mit dem Verweis auf eine islamistische Opposition habe sich das Regime die internationale Gemeinschaft vom Hals geschafft, diese wiederum eine Ausrede für Untätigkeit gefunden. Genau das habe aber erst den Extremismus befördert. Pater Paolo hält eine Übergangsregierung für die befreiten Gebiete für notwendig und nötig, die Minderheitenfrage aktuell anzugehen, um Racheakte und Massaker nach Assads Sturz zu verhindern. Allerdings hält er Figuren wie Schwester Agnes Mariam für Varianten der geschickten Manipulation durch das Regime. Schwester Agnes setze Revolution mit Terrorismus gleich.
Weitere skurrile Meldungen:
Der Telegraph berichtet, Asma al-Assad sei schwanger und erwarte im März ein Kind. Dies zeige gewissermaßen die Siegesgewissheit Assads, die Oberhand im Konflikt zu erlangen.
Ein NYT-Blog berichtet von einem russischen Richter „im Urlaub“ in Syrien. Bei seinem Abenteuer als Kriegskorrespondent für ANNA wurde er schwer verletzt, als er mit der syrischen Armee unterwegs war. Der Richter soll Armee- oder Geheimdiensterfahrung haben, dementierte aber gleich, als Spion unterwegs zu sein. Der Blog beleuchtet auch die „Abkhazian Network News Agency“ ANNA (Youtube-Channel), die fast ausschließlich über Syrien berichtet. Im Juli 2011 registriert, sei ANNA wohl ein Weg, die russische Außenpolitik und positive Sicht auf Assad im nicht-russischsprachigen Ausland zu verbreiten. Manche Videos sind englisch untertitelt, der NYT-Blog zeigt einige Beispiele. Allerdings: Allein die Sendermelodie von ANNA lässt einen schon flüchten…
Unsere Syrien-Presseschau als RSS-Feed abonnieren.
Für eine wöchentliche Zusammenfassung unserer Beiträge im Syrischer Frühling-Blog schicken Sie uns doch einfach eine Email an: newsletter[ätt]adoptrevolution.org.
Dieser Beitrag ist lizensiert als Creative Commons zur freien Verwendung bei Namensnennung. Bei kommerzieller Weiterverwendung bitten wir um eine Spende an Adopt a Revolution.