In der Region Idlib leben rund 2 Millionen Menschen, die aus anderen Landesteilen hierher vertrieben wurden. Rund 1,7 Millionen von ihnen leben in Flüchtlingslagern. Sie stammen in der Regel aus ehemals oppositionell kontrollierten Regionen Syriens. Etwa aus Ost-Ghouta, einer viele Jahre lang vom Assad-Regime belagerten Oppositionshochburg bei Damaskus.
Als Ost-Ghouta 2018 vom Regime zurückerobert wurde, standen alle zivilen Aktivist*innen aus der Region vor der Wahl, sich entweder dem Risiko auszusetzen, vom Regime verhaftet, gefoltert und getötet zu werden – oder sich mit Bussen nach Idlib abtransportieren zu lassen.
Auch unsere Partner*innen Huda Khaity wurde damals aus Ost-Ghouta vertrieben und nach Idlib verbracht. Dank unserer Spender*innen konnten wir sie dabei unterstützen, dort ein Frauenzentrum aufzubauen. Wir haben Sie zu ihrer aktuellen Projekten in Flüchtlingslagern befragt.
Wenn man sich die Bilder der im Schlamm versinkenden Zelte ansieht, denkt man, die Geflüchteten bräuchten dringend warme Decken. Warum sind ausgerechnet Bildungsangebote in Flüchtlingslagern ein Schwerpunkt Eurer Arbeit?
Wir haben 2020 in einigen Flüchtlingslagern nahe Idlib-Stadt Hygienepakete verteilt und über das Corona-Virus aufgeklärt, um die Folgen der Pandemie hier zumindest etwas zu mildern. Dabei haben wir alle Menschen befragt, was ihnen hier im Camp fehlt. Die meisten haben dann nicht als erstes nach mehr humanitärer Hilfe gebeten, sondern uns darauf hingewiesen, dass ihre Kinder nicht zur Schule gehen können. Viele junge Erwachsene haben beklagt, dass sie selbst kaum lesen und schreiben können, weil sie aufgrund des Krieges und der Vertreibungen kaum in die Schule gehen konnten.
Deswegen haben wir beschlossen, zunächst in einem Camp Zelte für Bildungsangebote aufzubauen, in denen wir jetzt vorerst Alphabetisierungskurse anbieten. Momentan richten sich diese Kurse an Kinder und Jugendliche, ca. 90 Kinder nehmen derzeit teil. Dieses Thema ist extrem wichtig, denn wenn in diesem Bereich nichts unternommen wird, weil diese Generation sonst ohne Grundschulbildung aufwachsen und daher große Probleme im Leben haben. Bei den Kursen jetzt mussten wir wirklich mit dem Alphabet anfangen, also von ganz vorne.
Wo kommen die Menschen her, die von Eurem Angebot profizieren?
In dem Camp, in dem wir mit der Arbeit begonnen haben, sind die meisten Familien Geflüchtete aus dem Umland von Maret Al-Numan. Die meisten von ihnen waren vorher schon in mehreren anderen Camps, bis sie in diesem Camp angekommen sind. Die meisten Kinder und Jugendlichen haben niemals irgendwelche Bildung erhalten. Unsere Kurse sind hauptsächlich für Kinder, Jugendliche und Frauen, die ohnehin die Mehrheit in den Camps darstellen.
Wir haben mit den Kindern und Jugendlichen angefangen, aber wir werden auch Alphabetisierungskurse für Frauen anbieten. Außerdem wollen wir für die Frauen im Camp zukünftig auch Ausbildungskurse anbieten, wie wir sie auch in unserem Frauenzentrum in der Stadt anbieten: Ausbildungskurse zur Friseurin zum Beispiel, Schneidereikurse und Kurse im Bereich Krankenpflege. Wir bieten in den Camps außerdem psychosoziale Beratung und Rechtsberatung für Frauen an.
Um was geht es dabei genau?
In den Aufklärungskursen für Frauen im rechtlichen Bereich haben wir uns bisher auf Fragen des Personenstandsrechts konzentriert, also etwa die offizielle Registrierung von Kindern oder Ehen und wie man dafür an offizielle Papiere kommt. Denn es ist oft ein großes Problem, wenn Kinder gar keine offiziellen Geburtsurkunden haben und nirgendswo offiziell registriert sind – und das kommt in in den Camps oft vor. Außerdem klären wir die Frauen über verschiedene Arten von Verträgen auf – warum Verträge wichtig sind, was sie beinhalten müssen, wie man sie aufsetzt et cetera. Also alle Verträge, die im Leben einer Frau wichtig sein könnten, wie etwa der Ehevertrag.
Im Rahmen unserer Kampagne „16 Tage gegen Gewalt gegen Frauen“ haben wir in den Camps auch Aufklärungsarbeit bzw. psychosoziale Support-Sessions über die Ehe unter 18 gemacht, die aufgrund der wirtschaftlichen Situation der Menschen leider sehr verbreitet geworden ist. Viele Familien verheiraten ihre Töchter sehr früh, damit sie versorgt sind – das ist ein großes Problem.
Kannst Du uns etwas zu Eurem Team erzählen?
Die Lehrerinnen und Beraterinnen sind die gleichen, die auch die Kurse bei uns im Frauenzentrum unterrichten. Sie waren zum Teil auch als Freiwillige bei der Covid-19-Kampagne dabei. Sie hatten also auch schon Kontakt mit den Menschen im Camp und wissen um die Umstände dort.
Schon bei der Verteilung der Hygienekits war es uns sehr wichtig, dass wir nicht einfach Pakete aushändigen, sondern den Menschen vermitteln, dass wir für sie da sind, dass wir alles versuchen, um mit ihnen zusammen Dinge zu ermöglichen, die ihnen im Camp dringend fehlen und die wir ermöglichen können. Wir wollen dazu beitragen, dass die Situation im Camp im Hinblick auf Bildung, auf humanitäre Unterstützung, aber auch hinsichtlich der psychischen und rechtlichen Situation der Bewohner*innen ein bisschen besser wird.
Was sind dabei die größten Herausforderungen?
Die größte Herausforderung ist, dass es keine Kontinuität gibt. Unsere Alphabetisierungskurse etwa dauern rund drei Monate. Wir haben im November angefangen, und der Kurs sollte also regelmäßig bis Ende Januar stattfinden. Es gibt aber immer wieder Probleme mit Genehmigungen, natürlich auch wegen Covid-19, sodass es manchmal keine planbare Regelmäßigkeit gibt, sondern wir jede Woche aufs Neue sehen müssen, ob die Kurse stattfinden können.
Ein weiteres Problem ist die Finanzierung. Aufgrund der Inflation der türkischen Lira ist hier alles viel teurer geworden. Und eigentlich fehlt in jedem der IDP-Camps ein Bildungsangebot wenigstens für die Kinder. Wir können bisher nur Kurse in einem Camp ermöglichen. Und die Menschen in diesem Camp haben zum Beispiel kein Geld, um ihren Kindern Hefte und Stifte zu kaufen. Das müssen wir alles vom Frauenzentrum aus finanzieren.
Derzeit ist es außerdem nochmal härter, die Kurse zu veranstalten. Das Zelt, in dem wir unterrichten, steht auf dem nackten Erdboden. Jetzt im Winter ist es deswegen dort ziemlich kalt und der Boden schwemmt von den Regenfällen auf. Für uns ist der Weg ins Camp beschwerlich, wir müssen früh in der Dunkelheit aufbrechen. Und auch die Sicherheitssituation ist auf den Wegen manchmal etwas beängstigend, es gibt nach wie vor Bombardierungen und manchmal hört man die Flugzeuge kreisen.
Ist es angesichts dessen nicht schwer, Euer Team zur Arbeit in den Camps zu motivieren?
Nein – weil die Reaktion der Kinder uns belohnt. Sie sind so motiviert und nehmen das Angebot sehr gut an. Kein Kind fehlt, alle sind pünktlich und gut konzentriert. Auch bei den Frauen ist das Schönste, wie motiviert und neugierig sie trotz ihrer extrem schwierigen Situation sind. Sie wollen etwas lernen, neue Dinge ausprobieren.
Und neben der Bildung geht es ja auch darum, die Kinder und auch ihre Eltern etwas aus ihrer deprimierenden Lebensrealität in den Camps herauszuholen, sie diese harte Realität für ein paar Stunden vergessen zu lassen und ihnen etwas Hoffnung zu geben.
Unsere Partner*innen brauchen dringend finanzielle Unterstützung für Ihre Arbeit. Können Sie mit einer Spende diese und andere Initiativen für syrische Binnengeflüchtete unterstützen? Vielen Dank!