Heute ist der 8. März, der internationale Frauentag. Was bedeutet dieser Tag für euch?
Souad (Makers of Change Center, Idlib, Syrien): Also der Frauentag ist für uns der feministische Kampftag! Es ist ein Tag, der uns motiviert, an dem wir uns sammeln und nach außen zeigen, dass wir hier sind. Wir werden immer noch von der Gesellschaft bekämpft. Umso mehr feministisches Wissen wir unter Frauen verbreiten, umso größer wird unser Druck auf politische Entscheidungsträger – oder wir selbst müssen zu politischen Entscheidungsträgerinnen werden! Die Gesellschaft hat aber kein Interesse daran, uns dieser Räume zu geben, denn sie ist auf einem Patriarchat aufgebaut – sie hat eher Angst vor uns.
Manal (Amal Women Allianz, Nadschaf, Irak): Ich als feministische Aktivistin finde, dass der Frauentag eine Art riesiges Fest ist! Warum? Weil wir total glücklich sind, dass wir an diesem Tag kollektiv zusammenstehen! Es gibt so viel Hoffnung, wenn du mit Frauen kollektiv Aktivitäten planst. Wir lassen uns spüren, dass es durch Solidarität die Chance auf Veränderung gibt. In kurdischer und sumerischer Tradition ist der 21. März der Beginn des Neuen Jahres, für uns Frauen ist es der 8. März.
So wie die Revolution sich gegen das diktatorische Regime gewandt hat, so hat sie sich auch gegen eine autoritäre Gesellschaft gerichtet, die das Monopol auf die Rolle der Frau hatte.
Souad, Makers of Change Center, Syrien
Solin (PÊL Civil Waves Zentrum, Qamishli, Syrien): Wir werden am 8. März ein Frauenforum machen, an dem wir online Bilder von Frauen zeigen werden. Mit dem 8. März verbinden wir außerdem bestimmte weibliche Rollenvorbilder, die wir an diesem Tag auch feiern.
Huda (Women Support and Empowerment Center, Idlib): Ich verbinde mit dem Frauentag am meisten Stärke. Die Stärke vieler Frauen in dieser herausfordernden Realität trotzdem weiterzumachen. Das ist für mich ein ganz persönliches Thema, und es ist eine Art Glaubensgrundsatz für mich. Ich glaube an die enorme Stärke von Frauen. Denn ich bin selbst so eine Frau, die einen sehr hohen Preis gezahlt hat für ihr Engagement in der Revolution. Ich wurde vom Regime verfolgt, ich wurde aus Ost-Ghouta nach Idlib vertrieben, ich habe Angehörige in den Bomben verloren, und ich habe immer wieder von vorne angefangen – denn ich glaube an meinen Kampf für die Frauen.
Warum setzt ihr euch in eurer Arbeit gezielt für Frauen ein?
Solin: Die Krisen hier in der Region haben einen besonders starken Effekt auf Frauen auf allen Ebenen – wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch. Viele Frauen sind Binnenvertriebene. Sie haben Bombardierung und Flucht erlebt. Viele minderjährige Mädchen werden zur Heirat gezwungen, Armut ist ein extrem großes Problem. Das führt zu weitreichenden gesellschaftlichen und politischen Problemen.
Huda: Der elfte Jahrestag der Revolution steht kurz bevor. Diejenigen, die oft den größten Preis für die Revolution und den darauffolgenden Krieg in Syrien zahlen, sind die Frauen. Deswegen sehen wir es als Notwendigkeit an, Frauen in den Fokus unserer Arbeit zu rücken. Frauen sind die Basis unserer Gesellschaft. Sie erziehen die kommenden Generationen, denn sie sind in vielen Fällen die Überlebenden und müssen beide Rollen – Mutter- und Vaterschaft – ausfüllen. Sehr viele Frauen hier in Idlib haben ihre Ehemänner im Krieg verloren. Häufig waren die auch die Ernährer der Familie, weswegen Frauen bisher völlig unbekannte Rollen ausfüllen müssen.
Manal: Die Situation von Frauen im Irak ist schlecht, die gesetzliche Lage ist extrem prekär. Es gibt viele Selbstmorde, Arbeitslosigkeit, alle Formen von Gewalt, politische Marginalisierung. Frauen im Irak haben kaum die Möglichkeit, ihr Schicksal selbst zu bestimmen und ihre Zukunft selbst zu gestalten! Einer der wichtigsten Punkte ist, dass Frauen wenig Arbeitsmöglichkeiten haben und es auch gleichzeitig keine Form von Arbeitslosengeld gibt. Dies bringt Frauen in eine extreme Abhängigkeit von Männern.
Was war das Feministische an den Revolutionen, die ihr erlebt habt?
Souad: Die Revolution hat Räume geöffnet, in denen wir uns ausprobieren konnten. Vor der Revolution hatten wir eine ziemlich stereotype Rollenverteilung. So wie die Revolution sich gegen das diktatorische Regime gewandt hat, so hat sie sich auch gegen eine autoritäre Gesellschaft gerichtet, die das Monopol auf die Rolle der Frau hatte. Nach der Revolution haben wir unsere Rechte kennengelernt, die uns durch die Gesellschaft und das politische System verwehrt geblieben sind.
Manal: Der Kontext hier im Irak unterscheidet sich ein wenig. Wir müssen uns klarmachen, dass politische und feministische Arbeit von Frauen, seit dem Beginn der Herrschaft der Baath-Regierung und dann der Islamisten nach 2003, bis heute nicht wirklich existiert hat. Die Baath-Partei hat versucht, diesen Bereich zu monopolisieren und Frauen für ihre Zwecke auszunutzen. Genau das hat der Politische Islam auch gemacht. Wir sprechen im Irak über fünf Dekaden, in denen Frauen nicht ihre Meinung sagen konnten.
2019 hatten die linken Parteien überhaupt nicht auf dem Plan, dass Frauen auf die Straßen strömen und an vorderster Front dabei sein würden. Für uns gibt es ein vor und ein nach der Tahrir-Revolution. Frauen hatten eine Zeit lang keine Angst. Das ist revolutionär!
Frauen haben an vorderster Front gegen den sogenannten ‘Islamischen Staat’ gekämpft. Die Frauen hier in der Gegend haben dadurch auch diese gesellschaftliche Unterdrückung durchbrochen.
Solin, Civil Waves Zentrum, Syrien
Solin: Frauen haben auch eine sehr wichtige Rolle bei der Revolution hier in Nord- und Ostsyrien gespielt. Wir sehen hier seit 2012, dass sich Frauen in wichtigen Führungspositionen befinden. Frauen sind Teil der Polizei und der Armee und schützen damit diese Gegend hier ganz wesentlich. Früher waren Frauen doppelt unterdrückt: Von einem autoritär-gesellschaftlichen System, was auf einem autoritär-politischen System basierte. Frauen hier haben an vorderster Front gegen den sogenannten ‘Islamischen Staat’ gekämpft. Das ist auch deswegen relevant, weil sich die Gewalt des IS explizit gegen Frauen gerichtet hat. Die Frauen hier in der Gegend haben dadurch auch diese gesellschaftliche Unterdrückung durchbrochen.
Manal: Ich habe einen weiteren Gedanken dazu. Die Rolle der Frauen in den Protesten hier im Irak war wichtig, aber sie hatte eher einen unterstützenden Charakter für die Rolle der Männer: Notversorgung, medizinische Hilfe, Nahrung. Aber die Frauen haben keine eigenen Forderungen gestellt. Sie haben immer wieder betont, dass dies eine gemeinsame Revolution ist.
Was ist das Revolutionäre an feministischer Arbeit für euch?
Solin: Wir versuchen, die Rolle der Frauen auf drei Ebenen weiterzuentwickeln: die gesellschaftliche Entwicklung von Frauen über Kurse in der Community. Die zweite Ebene ist die kulturelle oder intellektuelle Entwicklung von Frauen durch die Aufklärung der Gesellschaft und drittens, die Entwicklung der Frauen auf juristischer Ebene: Frauen müssen wissen, welche Rechte sie haben und welche nicht, und was sie fordern können.
Huda: Als eine der wichtigsten Errungenschaften sehe ich an, dass Frauen es im Lauf der letzten Jahre geschafft haben, sich zu vernetzen und zusammenzuschließen, Gruppen zu gründen, Zentren zu eröffnen, um sich gegenseitig zu empowern. Und Frauen haben angefangen, ihre Meinung klar zu äußern und gegen viel Widerstand zu vertreten – ohne Angst. Auf politischer und gesellschaftlicher, und auch juristischer Ebene.
Manal: Ich glaube, dass wir derzeit in einer Phase sind, in der die Frauenarbeit revolutionär wird. Unsere Aufgabe in der Aman-Allianz ist, die Frauen dahin zu führen, dass ihnen klar wird, welche Forderungen sie formulieren können, weil sie als Frauen unterdrückt werden! Es kann doch nicht sein, dass Frauen einfach nur ihre gegenderte Arbeit, wie Putzen und Kochen, vom Haus auf die Protestplätze bringen! Das war eine wichtige Rolle, aber das kann nicht die Rollenverteilung in der Revolution sein! Viele Frauen sehen die Hausarbeit als ihr Ende. Sie kochen und putzen und glauben nicht, dass das Leben noch irgendwas anderes zu bieten hat. Auch hier braucht es eine Revolution!
NGOS haben oft eine unpassende Sprache, die nicht zum Kampf der Frauen passt – sie ist formell, sie ist nicht wütend! Täglich werden Millionen Frauen nicht einmal die grundlegendsten Rechte gewährt – da muss unsere Sprache doch wütend sein!
Manal, Amal-Allianz, Irak
Wir hatten eine Phase, in der die Arbeit mit Frauen sehr auf den Rahmen der NGOs beschränkt war. Die Arbeit wird aber dann revolutionär, wenn sie sich außerhalb der NGO-Strukturen auf der Basis der Frauen organisiert. NGOs haben oft eine unpassende Sprache, die nicht zum Kampf der Frauen passt – sie ist formell, sie ist nicht wütend! Täglich werden Millionen Frauen die grundlegendsten Rechte verwehrt – da muss unsere Sprache doch wütend sein!
Souad: Bis heute werden Frauen unterdrückt, aber innerhalb unserer Gesellschaft und unserer feministischen Institutionen wissen wir nun viel mehr, wie wir damit umgehen sollen – wir können Kampagnen machen, Druck ausüben auf die politischen Autoritäten. Heute stehen wir kollektiv zusammen und das macht unsere Arbeit effektiver. Männer hatten in der Vergangenheit das alleinige Monopol auf politische Bereiche – von daher ist jeder Millimeter, den wir in diesem Bereich gewinnen, ein Erfolg. Als feministische Organisationen brauchen wir heute von Feminist*innen weltweit noch mehr Unterstützung, um mehr Orte gewinnen zu können! Dank der Unterstützung von Adopt a Revolution konnten wir Frauennetzwerke aufbauen, die über die politischen und militärischen Grenzen hinweg agieren! appelliert Souad.
Vielen Dank für eure Beiträge! Wir senden feministische Grüße aus Deutschland!