Samar Saleh

Was ist aus den Geiseln des »Islamischen Staates« geworden?

Während seiner Terrorherrschaft verschleppte der »Islamische Staat« tausende Menschen. Nun entreißt man ihm eine Stadt nach der anderen – doch von den Gefangenen fehlt weiter jede Spur. Von Haid Haid.

Samar Saleh

Mehr als vier Jahre ist es her, dass die Terrormiliz »Islamischer Staat« meine Cousine Samar Saleh entführte. Seitdem wartete ich auf den Tag, an dem die Gefängnisse der Terrormiliz befreit werden. Nun sind mit Raqqa und Deir ez-Zor seine letzten Hochburgen gefallen – doch das Schicksal von Samar und tausenden anderen Verschleppten ist weiterhin ungeklärt. Statt der erhofften Erleichterung und Freude empfinde ich Leere und Angst.

Wo ist sie? Was ist mit ihr geschehen? Gibt es noch Hoffnung sie wiederzusehen? Auf diese Fragen gibt es keine Antwort, die fähig wäre meinen Geist zu beruhigen.

Samar wurde im August 2013 mit ihrem Freund Mohammed al-Omar in meiner Heimatstadt Atareb entführt. Monatelang suchten wir nach ihr. Dann fanden wir heraus, dass sie im Januar 2014 – nach der Niederlage des IS in Nordsyrien – nach Raqqa gebracht worden war.

Wie so viele andere GraswurzelaktivistInnen, die über Menschenrechtsverletzungen berichteten, war Samar zum Ziel geworden, weil sie dort arbeitete, wo der IS operierte.

Politische Gefangene werden in geheimen Einrichtungen festgehalten
Die Miliz ist bekannt für ihren Einsatz von Gewalt und Zwangsmitteln. Ob Entführungen, Verschwindenlassen, Attentate oder öffentliche Hinrichtungen – es geht ihr darum, jene kleinzukriegen, die sich gegen ihre Herrschaft und ihre Methoden wenden und so die lokale Bevölkerung in Schach zu halten.

Wie genau der IS mit seinen Gefangenen umgeht, hängt von den Taten ab, die er ihnen zur Last legt. Wer gegen seine drakonischen Regeln verstößt – sei es Rauchen, Alkoholkonsum oder der Umgang mit Frauen – wird in der Regel in offiziellen Gefängnissen festgehalten, bevor man ihn dem Scharia-Gericht vorführt

Doch mit politische Gefangenen verhält es sich anders. Wer gegen die IS-Herrschaft aufbegehrte wird in Geheimknästen festgehalten, ja, gar die Festnahme als solche wird in diesen Fällen oft geleugnet. Einige dieser Gefangenen wurden nach einiger Zeit vor das Scharia-Gerichten gestellt, doch über das Schicksal viele anderer ist seit ihrer Verschleppung nichts mehr bekannt.

Und so weiß niemand genau, wie viele Menschen sich in der Gewalt des IS befinden. Eine lokale syrische Menschenrechtsorganisation schätzte ihre Zahl im September 2014 auf etwa 6.318. Seit der von den allermeisten SyrerInnen abgelehnten Ausrufung des »Kalifats«  sind viele weitere Gefangene hinzugekommen. Wie viele? Das ist kaum zu klären.

Aber wie können tausende Gefangene einfach ohne jede Spur verschwinden?
Auch die Rückeroberung Raqqas und Deir ez-Zors hat bislang keine Aufklärung gebracht. Talal Sido, der ehemalige Sprecher der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), erklärte in einem Interview am 18. Oktober, dass alle Gefängnisse in Raqqa leer gewesen waren.

Aber wie können tausende Gefangene einfach ohne jede Spur verschwinden? Das Evakuierungsabkommen, das der vollständigen Rückeroberung Raqqas vorausging, könnte etwas Licht ins Dunkel bringen. Nach vier Monaten des Kampfes vermittelten lokale Stammesführer einen Deal zwischen der SDF und dem IS. Ihr Ziel: Die in der Stadt gefangenen ZivilistInnen zu retten, die vom IS als menschliche Schutzschilde missbraucht worden waren, und die weitere Zerstörung Raqqas zu verhindern.

Das Abkommen sicherte den IS-Kämpfern freies Geleit zu, dafür würden sie sich vollständig aus der Stadt zurückziehen. Die Details dieses Deals blieben weitgehend im Unklaren, bis es der BBC möglich war, sie zu enthüllen. An die 4.000 Menschen, darunter Frauen und Kinder, wurden in vom IS-gehaltene Gebiete in der Provinz Deir ez-Zor gebracht. Die US-geführte Internationale Koalition gegen den IS spricht von 250 Kämpfern und 3.500 ihrer Familienmitglieder.

Eine gut informierte kurdische Quelle, die anonym bleiben möchte, widerspricht dem jedoch: »Auch einige der Gefangenen wurden von den IS-Kämpfern mit nach Deir ez-Zor transportiert, um sie als menschliche Schutzschilde zu benutzen.«

Doch wie viele dieses Schicksal ereilte, ist unklar.

Die Zahl der Evakuierten legt nahe, dass viele Gefangene nicht mehr am Leben sind. Die selbe Quelle sagt, dass viele exekutiert worden sein könnten: »Wenn der IS sich aus einem bestimmten Gebiet zurückzieht, so wird er die los, die für ihn keinen Wert haben. Ausländer, prominente AktivistInnen, Frauen, die als Sklavinnen gehalten werden können – diese Menschen werden in der Regel als nützlich eingestuft. Gegnerische Fußsoldaten oder durchschnittliche männliche Gefangene werden jedoch zur Belastung.«

Die SDF muss sich um Aufklärung bemühen
Ein wichtiger Bericht der unabhängigen UN-Syrien-Kommission widmete sich im März 2014 diesem Thema und listete mehrere Beispiele für Massenexekutionen Gefangener durch den IS auf. All diese Gräueltaten ereigneten sich wenige Tage – teilweise gar nur Stunden – bevor lokale Rebellengruppen die jeweiligen IS-Basen eroberten.

Es ist das enorme Ausmaß der Zerstörung in Raqqa, das es noch weiter erschwert, Massengräber zu lokalisieren. Doch trotz offensichtlicher Hindernisse kann die SDF mehr tun, um das Schicksal der Gefangenen aufzuklären, sodass ihre Familien endlich abschließen können. Der IS ist auch dafür bekannt, dass er all seine Aktivitäten akribisch dokumentiert. Das betrifft insbesondere seine Gefangenen. Entsprechende Dokumente fanden sich in den Gefängnissen der irakischen Stadt Mossul. Sie enthielten die Namen und weitere Details derer, die dort eingesperrt gewesen waren.

Doch die SDF hat bislang noch nicht einmal erwähnt, ob entsprechende Dokumente in Raqqa gefunden werden konnten. Auch das Verhör von inhaftierten IS-Kämpfern könnte wichtige Informationen zu Tage fördern. Womöglich helfen auch Inschriften an den Wänden der Gefängniszellen dabei, etwas mehr herauszufinden.

Doch wenn die SDF – aus welchen Gründen auch immer – nicht den Willen oder die Ressourcen hat, um das Verhängnis tausender Gefangener aufzuklären, dann sollte es zumindest unabhängigen Menschenrechtsorganisationen erlaubt sein, zu ermitteln, was aus unseren vermissten Geliebten geworden ist.

Der Artikel erschien zuerst auf der Website Middle East Eye und wurde hier mit freundlicher Genehmigung des Autors ins Deutsche übertragen. Haid Haid ist ein syrischer Autor und Analyst, schwerpunktmäßig setzt er sich mit Außen- und Sicherheitspolitik, Konfliktbewältigung sowie kurdischen und islamistischen Bewegungen auseinander. Er twittert unter @HaidHaid22