Narrative in der Revolution: Neoliberalisierung, Gewaltfreiheit, Autonomie – Netzschau vom 6. April 2013

Muhammad Dibu diskutiert im Interview für Jadaliyya mit syrisch-kurdischen Schriftsteller Baderkhan Ali über die Revolution und das Streben der kurdischen Gemeinde in Syrien. Besprochen werden die sich wandelnden Bestrebungen der Kurden vor und nach der Revolution: von der Forderung nach Anerkennung ihrer legitimen Rechte innerhalb Syriens zur Bestrebung nach Föderalismus. Trotz aller Treffen und Diskussionen […]

Muhammad Dibu diskutiert im Interview für Jadaliyya mit syrisch-kurdischen Schriftsteller Baderkhan Ali über die Revolution und das Streben der kurdischen Gemeinde in Syrien. Besprochen werden die sich wandelnden Bestrebungen der Kurden vor und nach der Revolution: von der Forderung nach Anerkennung ihrer legitimen Rechte innerhalb Syriens zur Bestrebung nach Föderalismus. Trotz aller Treffen und Diskussionen habe es noch von keiner legitimen Seite eine Anerkennung der Rechte der Kurden gegeben. Auch wenn in der derzeitigen Situation eine Art Autonomie in den kurdischen Gebieten herrscht, so bezweifelt Ali, dass das in einem künftigen Syrien der Fall sein wird. Bezüglich des Verhaltens der Democratic Union Party (PYD) urteilt Ali: „The biggest mistake that the PYD has made in Syria is to try and impose itself on the Kurdish scene with violence. I don’t believe that these practices will stop when the Syrian regime falls.” Die kürzlich aus PKK und PYD gegründete Supreme Kurdish Authority sieht Ali als positives Zeichen einen kurdisch-kurdischen Krieg vermeiden zu wollen. Denn die PYD sei bereit für ihre Stellung in der kurdischen Politik (bewaffnet) zu kämpfen. Auf die allgemeine Entwicklung der syrischen Revolution bezogen und im Zuge dessen, die Zerstörung weiter Teile des Landes, resümiert Ali „[U]m total ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass irgendein Ideal solche Opfer verdient, eingeschlossen „Demokratie“. Was für einen Nutzen haben freie Wahlen, wenn das Land komplett zerstört ist?“

In Open Democracy diskutiert der libanesische Entwicklungsberater Nizar Ghanem die Herausforderung, eine gerechte Ökonomie in einem Post-Asad-Syrien aufzubauen. Eine weitere Phase im sozialen Kampf in Syrien werde der Wiederaufbau des Landes sein. Die Forcierung eines neo-liberalen Wirtschaftsansatzes, „welcher Märkte und Wachstum priorisiert über Menschen und Kultur“ würde „eine zweite Zerstörung der Seele, des Charakters und der materiellen Organisation eines der ältesten urbanen Räume dieses Planeten“ bedeuten. Unter dem Baath-Regime habe niemals ökonomische Gleichheit geherrscht, das Land sei eher wie ein Privatunternehmen geführt worden- ein Grund, der die Bedingungen für die Revolution in Syrien geschaffen hat. „Wer sollen die Hauptprofiteure der wirtschaftlichen Umgestaltung in Syrien sein“, diese Frage werden sich jene Stellen, die die Hauptlast der Revolution getragen haben werden. Das Beispiel Irak habe gezeigt, wie Liberalisierungsprozesse und Privatisierung in der Wirtschaft, massive Gewalt provozieren, den Zentralstaat schwächen und zur Fragmentierung des Staates führen können. Die Zerstörung der syrischen Infrastruktur hat bereits den Appetit von rivalisierenden Firmen aus der Türkei, Katar, Russland, Iran und China geweckt . Wie der Konflikt in Syrien gelöst werde, würde auch über die Verteilung der Wiederaufbau-Verträge, die die regionale politische Balance of Power wiederspiegeln, entscheiden. Die neue Wirtschaftsmacht müsse vor allem in den produktiven Bereich und Wertschöpfung investieren, um Verteilungskonflikte zu vermeiden.

Das Palestine News Network berichtet über die Abschiebung palästinensisch-syrischer Flüchtlinge  aus Ägypten nach Syrien. Anders als für Syrer, gilt für Palästinenser die realitätsferne Regelung, dass sie nur nach Ägypten einreisen dürften, wenn sie direkt vom Flughafen Damaskus am Flughafen Kairo ankommen. Palästinenser, die aus dem Libanon oder der Türkei nach Ägypten kommen, werden solange inhaftiert bis sie ihrer Abschiebung zustimmen. Selbst jene, die es nach Ägypten schaffen, werden von den Behörden davon abgehalten, sich bei der UNHCR als Flüchtling zu melden und dementsprechend mit einer Unterkunft, Essen und medizinisch versorgt zu werden. Die UNRWA sei für Palästinenser zu ständig, so die ägyptische Argumentation. Ironischerweise hat die UNRWA bis heute kein Mandat für Ägypten.

Charles Tripp, Autor des Buches “The Power and the People: Paths of Resistance in the Middle East” argumentiert auf Jadaliyya, dass sich im Laufe der syrischen Revolution ein dominanter Narrativ über die Form des Widerstandes gegen das Asad-Regime herausgebildet hat. Dieser lasse immer weniger Raum für andere Ansichten von Widerstand: „[T]he dominant narrative itself becomes hegemonic, appropriating not simply the means of resistance but colonizing its imagination as well.” Für die Befürworter von gewaltlosem Widerstand heißt das, dass sie gleich von zwei Seiten mit Ablehnung und Diffamierung zu rechnen haben: seitens des Regimes, welches sie friendlich bekämpfen und seitens der bewaffneten Rebellen, die ihnen im schlimmsten Falle Kollaboration mit dem Regime vorwerfen, nur weil sie es nicht mit Gewalt stürzen wollen. Gewaltlosigkeit sei in diesem Zusammenhang auch ein gegen-hegemoniales Projekt, welches daran glaubt, dass das Mittel mit welchem das Regime abgesetzt wird, die Zukunft des Landes mitbestimmt. Wenn Gewalt zum Sturz des Regimes beiträgt, dann sei die Gefahr größer, dass sich ein weiteres Mal eine Diktatur im Land entwickelt.

„Sie flohen aus dem großen Gefängnis und verweilen nun in einem kleineren“, ist die Beschreibung von Akhbar al-Aan für die Unterkunft von 29 syrischen Familien, die in den Libanon geflohen sind und in einem ehemaligen Gefängnis Zuflucht gefunden haben, nachdem sie keine andere Bleibe gefunden hatten. Der Ort war komplett verwahrlost, teilweise hatte sich Vieh dort eingenistet. Die Flüchtlinge gestalteten die Zellen des Gefängnisses so um, dass 200 Personen nun dort Platz finden. Unter ihnen 80 Kinder, 25 davon sind unter zwei Jahre alt. Um Ahmad berichtet davon, wie ihr 12-jähriger Sohn jeden Tag in einem libanesischen Supermarkt arbeitet und am Ende des Monats nur 33 Dollar verdient, zu wenig um eine Familie zu ernähren, oder das Gefängnis so zu modernisieren, dass es vor Kälte und Ratten schützt.

In The Atlantic registiert Lauren Wolfe vom Projekt „Women under Siege”, dass „Syrien eine massiven Vergewaltigungskrise hat“. Vergewaltigung – sowohl gegen Frauen, als auch gegen Männer – wurde von Seiten des Regimes als Mittel zur Kontrolle, Einschüchterung und Erniedrigung benutzt. So entstehe eine „Nation traumatisierter Überlebender“, die nicht nur die direkten Opfer betrifft, sondern auch Kinder und Angehörige, die Zeuge des Verbrechens waren. Nach den schrecklichen Verbrechen in Darfur, Bosnien und Ruanda habe die Internationale Gemeinschaft immer wiederholt, “wir werden nicht vergessen”- aber man vergaß. Deswegen fragte Wolfe bezogen auf Syriens humanitäre Katastrophe: „Could we have forgotten that the unfolding human catastrophe in Syria exists before it’s even over?” Wolfe hat mit einem Team anhand von 162 persönlichen Berichten untersucht, wer, wo, wie und vor allem von wem in Syrien vergewaltigt wird. Demnach seien 40% der vergewaltigten Frauen, Opfer von Gruppenvergewaltigungen gewesen, die große Mehrheit durch Regimearmee und Shabiha. Viele Opfer sprechen nicht über die Vorfälle, die meisten leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen. 20% der Vergewaltigungsopfer sind Männer im Alter von 11-56 Jahren. Die Dokumentation sei wichtig, da im Krieg viele Beweise verschwinden, viele der Opfer werden auch direkt erschossen, so dass sie später ihre Peiniger nicht identifizieren können.


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