Schon ein Blick auf die bunt gefleckten Syrienkarten, mit denen AnalystInnen die Frontverläufe darstellen, zeigt, dass es keine pauschale Antwort zum Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und bewaffneten Gruppen geben kann: Es kommt stets darauf an, welche Gruppe das jeweilige Gebiet kontrolliert. Wobei »kontrollieren« hier bereits in die Irre führt: Die Präsenz einer bewaffneten Gruppe in einem Gebiet heißt nicht immer, dass sie in der Lage wäre, dort auch politische Kontrolle auszuüben.
Stattdessen ringen vielerorts ZivilistInnen und Bewaffnete Tag für Tag darum, wie das Leben in ihren Städten aussehen soll. Das Verhältnis von bewaffneten Gruppen zu zivilen Gruppen ist dabei überall unterschiedlich – und reicht von Kooperation bis hin zu heftigen Konflikten, in denen Bewaffnete auch immer wieder mit Gewalt gegen ZivilistInnen vorgehen.
Beispiel Atareb: Widerstand gegen IS und al-Nusra
»Die Menschen fordern Freiheit und Würde, dafür sind sie auf die Straße gegangen. Da kann nicht einfach nach Jahren irgendeine Gruppe antanzen, die Freiheiten massiv einschränken und versuchen, dir die Würde zu nehmen«, sagt Mohammed, einer der Gründer des Zivilen Zentrums Atareb. Seine Stadt ist ein Beispiel dafür, welche Rolle Zivilgesellschaft in einem bewaffneten Konflikt im günstigen Falle einnehmen kann.
»Unser Ziel ist, dass keine militärische Fraktion die Stadt kontrolliert. Wir haben unseren Lokalrat und die Freie Polizei. Da brauchen wir keine Milizen, die mit Waffen regieren. Die Bewaffneten haben die Aufgabe, die Gegend von den Assad-Truppen zu befreien und nicht, das befreite Gebiet zu beherrschen«, sagt Mohammed.
Die kleine Stadt im Westen der Provinz Aleppo hat viele Kämpfer kommen und gehen sehen, und doch waren da immer jene, die sich nicht unterdrücken ließen:»Die Bevölkerung hat in Atareb zuerst mit voller Kraft gegen das Regime rebelliert und die Fahne der Revolution gehisst. Als dann der IS und später die Kämpfer der al-Nusra-Front eindrangen und uns die neu gehisste Flagge genauso wie alle anderen Aktivitäten verbieten wollten, denen wir AktivistInnen nun einmal so nachgehen, konnte die Bevölkerung von Atareb das nicht hinnehmen«, sagt Mohammed.
Irgendwann sei es täglich zu Protesten, zu zivilem Ungehorsam bis hin zu Ausschreitungen gekommen, bis sich die dschihadistische al-Nusra-Miliz in ein Quartier vier Kilometer außerhalb der Stadt zurückzog, erzählt Mohammed. Ein Jahr zuvor hatten die Menschen von Atareb mit Hilfe lokaler Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA) schon Kämpfer des IS aus der Stadt gejagt. Vollständig sicher fühlen sich die AktivistInnen des zivilen Zentrums aber nicht »Wir haben uns mit den monatelangen Protesten gegen die al-Nusra-Front in Maarat an-Numan solidarisiert und ebenfalls demonstriert.« Nun fürchtet Mohammed, die Kämpfer könnten sich bei ihnen rächen.
Erbin: Alternativen schaffen zur Herrschaft der Bewaffneten
Wie Atareb ist auch der von Aufständischen gehaltene Damaszener Vorort Erbin ein Beispiel dafür, dass Waffen bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Bewaffneten und Unbewaffneten nicht immer das letzte Wort haben. »Bewaffnete Gruppen? Davon gibt es hier leider viele – und die meisten sind Extremisten«, sagt Abdulsattar vom Zivilen Zentrum in Erbin. »Ahrar al- Sham, Faylaq al-Rahman, Jaysh al- Islam … Die Jaysh al-Islam (»Armee des Islam«) hat sich nach Grabenkämpfen mit anderen Bewaffneten aus Erbin zurückgezogen«, berichtet er, »aber vor allem der Sicherheitsdienst von Faylaq al-Rahman mischte sich überall ein und nahm willkürlich Leute fest«.
Auch in Erbin organisierten zivilen Gruppen Proteste gegen die Willkür der Bewaffneten. Die reagierten zunächst mit Gewalt: »Wie das Assad-Regime haben sie auf die Demonstranten geschossen«, sagt Abdulsattar. »Als eine Frau so schwer verletzt wurde, dass sie wenig später starb, hat das die Leute so aufgebracht, dass es zu einem regelrechten Aufstand kam. Darauf waren die Milizen nicht vorbereitet, und das al-Rahman-Korps musste seine Truppen aus der Stadt abziehen. Die Demonstrationen haben ihr Ziel erreicht: Die Kämpfer halten sich jetzt nur noch an der Front auf, wo sie gegen das Assad- Regime kämpfen.«
Qamishli: Zivilgesellschaft als Vermittler und Kritiker
Die AktivistInnen des Mandela House, dem zivilgesellschaftlichen Zentrum im Qamishli, arbeiten unter politisch und militärisch relativ stabilen Bedingungen: Das Gebiet im Norden Syriens wird seit drei Jahren von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) sowie den lokalen Polizeieinheiten (Asayish) kontrolliert, die der lokalen Selbstverwaltung unterstehen. Doch kommt es zu massiven Spannungen zwischen der PYD, die die Selbstverwaltung regiert, und syrisch-kurdischen Opposionsparteien: Immer wieder werden Oppositionspolitiker inhaftiert oder in den Irak abgeschoben.
Das Mandela House versucht in diesen Konflikten eine Mittlerrolle einzunehmen. »Wir haben auch oft versucht, Opposition und Selbstverwaltung an einen Tisch zu bringen – aber das ist nicht einfach«, sagt Leyla Xelef. Zwar hat auch die Zivilgesellschaft selbst immer wieder Schwierigkeiten mit der Selbstverwaltung. Aber Angst haben die AktivistInnen des Mandela House nicht vor der neuen Ordnungsmacht: »Wir kritisieren die Selbstverwaltung nicht nur, wir haben viele ihrer Vertreter von Angesicht zu Angesicht gescholten.«
Kooperation statt Konfrontation
Auch in Talbiseh ist das Verhältnis zu den Bewaffneten eher auf Kooperation als auf Konfrontation an- gelegt: »Im Krieg gibt es ganz sicher keine vollständige Unabhängigkeit«, sagt Hassan vom Zivilen Zentrum. »Das betrifft uns genauso wie alle anderen. Sicher kommt auch mal jemand vorbei und versucht Druck auszuüben, aber hier in der Gegend ist das nicht so heftig. Es gibt hier keinen Import von Kämpfern aus anderen Regionen oder gar aus dem Ausland. Die FSA besteht aus Bürgern der Stadt, deren Familien leben auch alle hier. Deshalb sind die meisten Kämpfer sehr verständnisvoll im Umgang mit den Zivilisten.«
Damit weißt er darauf hin, dass oft maßgeblich ist, woher sich die Kämpfer der Milizen rekrutieren. Stammen sie aus der lokalen Bevölkerung oder kommen sie anderswo her? »Einheiten von Außen, wie etwa IS, al-Nusra-Front oder Ahrar al-Sham, sind die lokalen Angelegenheiten völlig egal. Die hören auf niemanden«, sagt Hassan. Im Gegensatz dazu stehen Bewaffnete, die selbst aus der jeweiligen Stadt stammen, eher im Ruf, die Interessen der EinwohnerInnen zu achten. In Talbiseh etwa unterstehen die bewaffneten Einheiten letztlich dem Schura-Rat, einem religiösen Beratungsgremium, das die Aufgaben der zivilen Verwaltung in Talbiseh übernimmt.
Die vier Beispiele zeigen, dass das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Bewaffneten in Syrien von Region zu Region stark unterschiedlich ist. Unter günstigen Bedingungen kann es sogar gelingen, dass zivilgesellschaftliche Kräfte erfolgreich Widerstand gegen bewaffnete Gruppen leisten. Nur in zwei Ausnahmefällen ist die Beziehung zwischen Bewaffneten und Zivilbevölkerung weitestgehend statisch: Weder unter der Herrschaft des »Islamischen Staats« noch unter der des Assad-Regimes existieren unabhängige zivilgesellschaftliche Strukturen. Zivilen AktivistInnen bleibt dort nur die Wahl, sich dem Willen der Bewaffneten zu unterwerfen. Oder im Verborgenen zu agieren und Haft, Folter und Ermordung zu riskieren.
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