“Wir brauchen eure Solidarität – wir brauchen sie jetzt!”

Wir dokumentieren hier einen Aufruf der Menschenrechtsaktivistin Khawla Dunia, die seit Monaten in Damaskus im Untergrund lebt. Er erschien heute auch in der Tageszeitung taz. Seit dem Beginn der syrischen Revolution sind mehr als neun Monate vergangen, aber es herrscht noch immer Unklarheit darüber was die syrische Revolution wirklich ist: Handelt es sich nur um […]

Wir dokumentieren hier einen Aufruf der Menschenrechtsaktivistin Khawla Dunia, die seit Monaten in Damaskus im Untergrund lebt. Er erschien heute auch in der Tageszeitung taz.

Seit dem Beginn der syrischen Revolution sind mehr als neun Monate vergangen, aber es herrscht noch immer Unklarheit darüber was die syrische Revolution wirklich ist: Handelt es sich nur um einen Aufstand, oder doch um eine echte Revolution? Ist es eine Revolution der Einheit oder eine der konfessionellen Spaltung? Wird die Revolution bestehen – oder ist sie zum Scheitern verurteilt? Ein Ende ist noch nicht abzusehen.

Aus den arabischen Staaten oder von der internationalen Gemeinschaft ist keine wirkliche Hilfe in Sicht, die das brutale Regime in die Schranken weisen würde. Deshalb spiegelt dieser Ausruf der Verzweiflung die Lage der Syrer am besten wider: „Wir haben keinen außer Dir, oh Gott!“

Die Hoffnung, dass der arabische Frühling auch in Syrien die Unterdrückung und die Tyrannei, das Morden und die Folter beenden würde, war lange mit schweren Zweifeln belastet: Mehr als 40 Jahre lang waren alle Anstrengungen der Opposition, die Demokratie in unser Land zu tragen, zum Scheitern verurteilt. Doch als die Behörden in Daraa einige Kinder verhafteten und mit unnachgiebiger Brutalität folterten, begann sich die Revolution wie ein Lauffeuer zu verbreiten. Wir Aktivistinnen und Aktivisten hatten gleich zu Beginn des Aufstands verkündet, dass wir nur mit friedlichen Mitteln erfolgreich sein können. Und trotz des ständigen Beschusses von Demonstrationen und trotz der willkürlichen Verhaftungen und Folter ist es uns gelungen, den friedlichen Charakter der Revolution zu bewahren. Die Aktivistinnen und Aktivisten riskieren ihr Leben, um friedlich ihre grundlegenden Rechte einzufordern.

Für ihr Engagement zahlen sie und alle Syrer einen hohen Preis. Die Gefängnisse sind gefüllt mit Menschen, die sich für für Demokratie und das Ende der Diktatur eingsetzt haben. Man kann ihre Schreie hören, die sie unter grausamer Folter von sich geben. Auf den Straßen unserer Städte und unserer Heimat wird täglich Blut vergossen.

Das syrische Regime versucht, die Gesellschaft zu spalten, indem es die Aktivistinnen und Aktivisten einschüchtert, verfolgt, quält und ermordet. Es bezahlt Menschen, die in seinem Auftrag verraten und töten, die aus Angst oder Profitgier handeln, weil sie sich von diesem System eine Zukunft versprechen.

Auch konfessionelle Spannungen versucht die Regierung zu erzeugen, indem sie Städte und Regionen voneinander abschirmt, und damit auch religiöse Gruppierungen trennt. So kann sie Furcht erzeugen vor der Dominanz der jeweils anderen Religionen. Denn nur durch einen Bürgerkrieg, der die Arbeit der friedlichen Aktivistinnen und Aktivisten zwangsläufig beenden würde, könnte sich diese Regierung an der Macht halten.

Diese Strategie der Spaltung war zu einem gewissen Grad leider erfolgreich: Immer wieder hören wir, dass die Minderheiten Angst vor dem Fall des Regimes haben. Somit lastet auf den Aktivisten auch noch die Bürde, die staatliche Einheit Syriens zu bewahren. Sie versuchen, den Menschen durch Diskussionen und mit kreativen Kampagnen diese durchsichtige Strategie bewusst zu machen.

Mit diesen Gesprächen schaffen sie es, Begriffe und Konzepte zu diskutieren, die seit Jahrzehnten nicht mehr verwendet wurden und die in viele Regionen des Landes noch überhaupt nicht vorgedrungen waren: Demokratie, Verfassung, transparente Wahlen, Zivilgesellschaft.

Ja, es ist tatsächlich wie eine Wiedergeburt, die sich gerade für Syrien vollzieht, für seine Menschen und für alle Teile der Gesellschaft: Es ist inzwischen nicht mehr ungewöhnlich, wenn eine säkulare und eine religiöse Frau gemeinsam demonstrieren gehen, wenn ein religiöser Prediger mit einem Linken komplexe gesellschaftliche Debatten führt oder wenn sich Menschen aus städtischen und ländlichen Gebieten in einem Privathaus treffen, außerhalb der Sicht- und Reichweite der Sicherheitsdienste, um sich über Demokratie und einen zivilen Staat zu unterhalten. Daraus entsteht der auf Demonstrationen häufig erklingende Ruf: „Eins, Eins, Eins… das syrische Volk ist Eins!“

Doch obwohl Syrien heute ein Land ist, das zum ersten Mal so etwas wie eine zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit erlebt, müssen wir Aktivistinnen und Aktivisten im Geheimen und aus dem Untergrund heraus arbeiten. Zu viel Offenheit müssten wir mit unserem Leben bezahlen.

Manchmal werden angesichts der brutalen Gewalt des Regimes Rufe nach Rache und Bewaffnung laut, um das Blutvergießen zu beenden. Doch das würde nur noch mehr Blutvergießen nach sich ziehen. Das können wir nicht hinnehmen. Dies kann genauso wenig hingenommen werden wie die Tatsache, dass Soldaten Menschen aus dem eigenen Volk töten, oder dass ein Soldat erschossen wird, wenn er sich weigert, auf friedliche Demonstranten zu schießen.

Vor allem in den letzten drei Monaten haben sich immer mehr Soldaten entschieden, an der Seite ihrer Brüder und Schwestern zu stehen, statt für das Regime zu töten. Ihre Zahl steigt täglich an, obwohl auch sie eine schwere Bürde auf sich nehmen: Sie müssen entweder ins Exil oder in den Untergrund, um aus dem Untergrund heraus in einigen Städten die friedlichen Demonstrationen beschützen zu können und zu verhindern, dass auf Unbewaffnete geschossen wird.

Trotz der großen Anzahl an desertierten Soldaten, trotz der vielen Toten und der Folter ist unsere Revolution friedlich geblieben. Unser Aufruf zum Streik, der hoffentlich in einen Generalstreik münden wird, findet größere Unterstützung als die Rufe nach Bewaffnung. Keiner will in einen Teufelskreis der Gewalt hineingeraten, auch wenn der Preis für den friedlichen Widerstand erst einmal höher erscheint. Der Preis eines Bürgerkriegs wäre noch tausendmal höher.

Diese Position wird vor allem gestützt von den Aktivistinnen und Aktivisten in den lokalen Koordinierungskomitees, die in den Städten und Dörfern Demonstrationen organisieren, die von den Verbrechen des Regimes über das Internet berichten und die zum Streik aufrufen.
Für ihre selbst auferlegte Verpflichtung gegenüber der friedlichen Revolution geben die Menschen ihre Arbeit und ihr normales Leben auf – denn sie müssen sich verstecken. Sie müssen von Ort zu Ort und von Haus zu Haus ziehen, um vor den Sicherheitsdiensten und ihren tödlichen Kugeln zu flüchten.

Und während diese Aktivistinnen und Aktivisten der Bevölkerung helfen, sich von der Unterdrückung und dem Terror des Staates zu befreien, erfahren sie selbst kaum Unterstützung. Kaum jemand sieht die Opfer, die sie bringen müssen, kaum jemand sieht, dass sie ihre Häuser und Familien aufgegeben haben, um sich in diesen Monaten ganz der Revolution zu widmen und um ihren glühenden Kampf für Freiheit, Menschenrechte und eine friedliche Revolution weiterführen zu können.
Als Aktivistinnen und Aktivisten brauchen wir dringend Unterstützung, um unsere Arbeit im Dienst der friedlichen Revolution weiterführen zu können. Wir brauchen die Unterstützung der Zivilgesellschaft in anderen Ländern, um Eure Erfahrungen in unseren Streit für Demokratie und Menschenrechte einflechten zu können. Wir brauchen Unterstützung für die Ärzte, die verletzte Demonstranten nur behandeln können, wenn die Polizei weit weg ist. Die Koordinierungskomitees brauchen finanzielle Unterstützung, um ihr endloses Engagement für einen unbewaffnete Aufstand fortsetzen zu können. Es braucht aber auch Geld, um die Wohnungen der Untergetauchten zu finanzierenen und die Materialien für unsere Demonstrationen zu bezahlen.

Menschen, die Ihr dies lest: Wir brauchen eure aktive Solidarität! Und wir brauchen Sie jetzt!