„Wir müssen verhindern, dass sich die Gewalt wiederholt“

Die Eskalation der Gewalt in Syrien ist kein isoliertes Ereignis, sondern Teil eines lange andauernden Musters. Warum Wahrheitsfindung und rechtliche Aufarbeitung unerlässlich sind – und welche Rolle zivilgesellschaftliche Initiativen dabei spielen, erläutert eine syrische Juristin im Interview.

Du bist nach Damaskus gereist – wie hast du die jüngsten Ereignisse wahrgenommen, insbesondere die Gewalt in den Küstenregionen? Welche Auswirkungen spüren die Menschen in der Hauptstadt?

Ich kann nicht für alle Menschen in Damaskus sprechen, da ich seit Jahren nicht im Land war. Für mich ist es eine völlig andere Erfahrung als für diejenigen, die alle Ereignisse der letzten Jahre hautnah miterlebt haben. Klar ist jedoch: Die gezielte Tötung von Zivilist*innen ist ein Verbrechen – unabhängig davon, wer die Tat begangen hat und in welchem Kontext.

Die aktuellen Ereignisse zeigen erneut, wie wichtig Wahrheitsfindung und Rechenschaftspflicht sind, um Wiederholungstaten zu verhindern. Sie sind kein isoliertes Phänomen, sondern Ausdruck tief verwurzelter Probleme, die das gesamte Land prägen und syrienweit angegangen werden müssen.

Wie bewertest du die bisherigen Maßnahmen der Übergangsregierung zur Untersuchung der Verbrechen? Hältst du diese Schritte für ausreichend, um Vertrauen in den Übergangsprozess aufzubauen?

Ich kann die Maßnahmen nicht direkt bewerten, sehe aber aus meiner Perspektive als Beobachterin, dass sie offenbar den rechtsstaatlichen Weg beschreitet, indem sie Ermittlungen eingeleitet hat. Vertrauen entsteht jedoch nicht allein durch eine Untersuchung – es erfordert Transparenz, inklusive Repräsentation und ernsthafte Aufarbeitung sowohl der jüngsten Ereignisse als auch der vergangenen 14 Jahre.

Ein erster Schritt ist es, die Gewalt zu beenden und Vergeltung zu verhindern. Gleichzeitig muss die Regierungsführung echte Teilhabe ermöglichen. Das jüngste Abkommen mit den SDF und in Swueida mit der drusischen Gemeinschaft könnte ein Schritt in diese Richtung sein. Entscheidend wird aber sein, ob eine umfassende Wahrheitsfindung und “truth-telling” stattfindet und die Gesellschaft mit gemeinschaftsbasierten Methoden aktiv einbezogen wird.

Wie wichtig ist es, dass kleinere, unabhängige zivilgesellschaftliche Initiativen in den Übergangsjustizprozess einbezogen werden?

Entscheidend ist nicht die Einbindung einzelner Organisationen, sondern dass der Prozess von Syrer*innen selbst geführt wird, insbesondere unter Einbeziehung der Opfer und ihrer Familien. Um wirklich alle Verbrechen seit März 2011 aufzuarbeiten, braucht es eine immense logistische, technische, juristische und personelle Anstrengung.

Die Zivilgesellschaft kann dabei eine Schlüsselrolle spielen – als Kontrollinstanz und durch ihre jahrelange Arbeit zur Dokumentation und Aufklärung von Verbrechen. Juristische Organisationen schließen zudem Lücken in bestehenden Rechtsgrundlagen, zum Beispiel im Hinblick auf Geschlecht und soziale Gerechtigkeit in Aufarbeitungsprozessen.