Plötzlich ging es sehr schnell: Noch vor zwei Wochen war Syrien das Land, in dem ganze Generationen ihre Zukunft verloren. Die Schulen zerstört, die Krankenhäuser zerbombt, die Städte in Schutt und Asche. Millionen Syrer*innen in die Flucht getrieben, der größte Teil von ihnen Binnenvertriebene im eigenen Land.
Dann startete die Großoffensive der Koalition oppositioneller Kräfte gegen das Assad-Regime, angeführt von der islamistischen Miliz Hay’at Tahrir al-Sham (HTS), an deren Ende der Sturz des Assad-Regimes stand.
Wer in diesen Tagen Syrer*innen darauf anspricht, was geschehen ist, bekommt oft Freudentränen zur Antwort – hierzulande und erst recht in Syrien. Überall liegen sich Menschen in den Armen, das ganze Land jubelt, wenn Assad-Statuen kippen, im kurdisch geprägten Hassaka genauso wie in der alawitischen Küstenstadt Tartous. In Homs feierten Leute um den berühmten Uhrturm, in Sahnaya, einem christlich dominierten Vorort von Damaskus, tanzten die Leute um den Weihnachtsbaum, in Qamishli veranstalteten Assyrer*innen, Kurd*innen und die orthodoxen Christ*innen gemeinsam mit einem Autokorso – wie auch auf der Berliner Sonnenallee im Exil. Überall herrscht Freude darüber, dass die Assad-Diktatur gestürzt ist.
Mann der Stunde: Mohammed al-Jolani
HTS-Anführer Mohammed al-Jolani ist jetzt der Mann der Stunde. Einst war er ein Mitglied der Al-Nusra-Front, einem syrischen Ableger von al-Qaida, die USA setzten ein Kopfgeld von zehn Millionen US-Dollar auf ihn aus. Heute jubeln ihm Millionen Menschen zu.
Wer das verstehen will, muss über religiöse oder ethnische Kategorien hinausblicken. Es ist der Moment, in dem die Tore der syrischen Foltergefängnisse geöffnet werden, der alles erklärt. Denn hinter den Mauern der Folterkerker offenbart sich das ganze Ausmaß des Grauens, mit dem Assad das Land beherrscht hat. Aus den Zellen treten ausgezehrte, tief traumatisierte Überlebende hervor – gezeichnet von Jahren unerbittlicher Folter und unvorstellbarer Qual. Viele von ihnen können kaum glauben, dass die Herrschaft Assads tatsächlich beendet ist, manche erinnern sich nicht an ihren eigenen Namen. Vor den Gefängnistoren drängen sich Familienangehörige von Zehntausenden Vermissten. Sie hoffen, ihre seit Jahren verschollenen Liebsten unter den Überlebenden wiederzufinden.
Dass diese Gefangenen endlich freikommen, ist auch Jolanis Verdienst. Außerdem kommt ihm zugute, dass seine Kämpfer keine Plünderungen oder Raubzüge durch das Land veranstalten und Minderheiten in Ruhe lassen. Zudem hat der HTS-Führer demokratische Wahlen für März angekündigt. Skepsis ist angebracht, Hoffnung aber auch. Jolani, der sich inzwischen seines Kampfnamens entledigt hat und wieder bei seinem bürgerlichen Namen Ahmed al-Schara genannt werden will, präsentiert sich geschickt als Pragmatiker. Seine PR-Maschine läuft auf Hochtouren – und das mit bemerkenswertem Erfolg.
Die Hoffnung ruht auf der Zivilgesellschaft
Doch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft beruht nicht allein auf den Versprechen von Jolani, sondern vor allem auf der Stärke der syrischen Zivilgesellschaft. Vor fast 14 Jahren hatten Aktivist*innen den Aufstand gegen die Assad-Diktatur angezettelt und später oppositionelle zivile Strukturen aufgebaut. Sie alle haben bewiesen, dass Fortschritt selbst unter den schwierigsten Bedingungen möglich ist. Diese mutigen Menschen sind trotz aller Widrigkeiten geblieben, um Syrien mit begrenzten Möglichkeiten zu gestalten. Diese Menschen sind es, die das Fundament für einen nachhaltigen Neuanfang gelegt haben – und ihre Arbeit wird entscheidend dafür sein, ob Syrien diese historische Chance nutzen kann und nach dem langen Winter tatsächlich ein Frühling anbrechen wird.
Die kommenden Tage und Wochen werden entscheidend sein. Mit Ihrer Spende können Sie jetzt die syrische Zivilgesellschaft unterstützen – und dass Syrien ein neues Kapitel beginnt.