Der Stadtteil Yarmouk in Süddamaskus steht dafür, dass sich PalästinenserInnen in Syrien einen eigenen Ort aufbauen. Die Belagerung des Assad-Regimes über zwei Jahre und der Angriff der ISIS-Miliz sind dabei, den Stadtteil physisch zu vernichten. Trotz der Belagerung durch das Assad-Regime konnte Sami Humam kurz nach dem Angriff der ISIS-Terrormiliz den palästinensischen Stadtteil Yarmouk mit einer Gruppe von AktivistInnen in ein anderes belagertes Gebiet verlassen. Im Interview berichtet der Aktivist, mit dem Adopt a Revolution seit über zwei Jahren zusammenarbeitet, von der Rolle des Assad-Regimes beim Angriff, warum sich ein junger Mann inmitten des Bürgerkiegs nicht bewaffnet und worauf er trotzdem noch hoffen kann.
Seit über zwei Jahren ist Yarmouk vom Assad-Regime belagert. Niemand darf rein oder raus, nur wenige Lebensmittel werden von Hilfsorganisationen verteilt. Wie kommt es, dass der “Islamische Staat” nun plötzlich mit tausend Kämpfern das Viertel überfallen konnte?
Die Kämpfer von ISIS kamen aus dem Stadtteil Hajar al-Aswad südlich von Yarmouk, wo sie schon länger aktiv waren. Diese dschihadistischen Gruppen besitzen die Stärke, sich zu organisieren, etwas, das anderen bewaffneten Gruppen fehlt. Sie haben zentrale Strukturen, klare Hierarchien und ihre Stärke nützt anderen Staaten, die mit ihnen ihre eigenen Interessen umsetzen wollen. Sie haben auf der materiellen Ebene viel zu bieten: Der Sold eines ISIS-Kämpfers beträgt mindestens 50.000 Syrische Pfund (ca. 200 Euro), was angesichts der Situation vor Ort ziemlich viel Geld ist. Mit diesem Geld kann ISIS Kämpfer anwerben.
Wie bewertest Du die Aktivitäten des Assad-Regimes bei dem Überfall auf Yarmouk?
Im Umgang mit dschihadistischen Organisationen ist das Regime eins der fähigsten der Welt. Der Überfall von ISIS hat die Aufmerksamkeit davon abgezogen, was das Regime mit Yarmouk gemacht hat, weil jetzt alle darauf schauen, was ISIS im Kampf macht. Jetzt geht es um den Angriff von ISIS und die Opfer dieser Offensive, was in den ersten Tagen nur zehn Menschen waren, darunter zivile AktivistInnen. Dabei wird vergessen, worunter Yarmouk durch das Regime leiden musste: Über 1.500 Menschen sind durch die Belagerung der letzten zwei Jahre ums Leben gekommen, darunter 173, die an Unterernährung gestorben sind. Das Regime hat ISIS bei dem Angriff mindestens gedeckt, indem es gegen seine Gegner, die palästinensische, Hamas-nahe Aknaf Beit al-Makdis gekämpft hat und sein Bombardement mit Fassbomben auf die Gegenden konzentriert hat, in die ISIS noch nicht vorgedrungen war.
Bis zuletzt hattest Du abgelehnt, Yarmouk zu verlassen. Was hat Dich und euch als Gruppe motiviert, weiterzumachen und in Syrien zu bleiben, als viele Andere gegangen sind?
Sich zurückziehen wäre aufgeben und das ist ein Verrat an der Sache. Als wir begonnen haben, uns an der Revolution gegen die Diktatur zu beteiligen, haben wir das nicht gemacht, weil uns langweilig war. Uns war bald klar, dass Syrien für die Freiheit viel wird opfern müssen, aber uns war auch klar, dass es kein Zurück mehr gibt. Der Verlust für uns AktivistInnen war größer als das, was wir ertragen konnten, aber gleichzeitig ist der Verlust eine Motivation dafür, weiterzumachen und die Ideen der Getöteten weiter zu tragen.
Als AktivistInnen habt ihr demonstriert, um Demokratie, Freiheit und Menschenrechte einzufordern. Dafür habt ihr euch verprügeln, angreifen und beschießen zu lassen. Der unbewaffnete Aufstand ist mittlerweile einem Bürgerkrieg gewichen und ihr lebt inmitten der humanitären Katastrophe. Was ist von der Revolution geblieben? Wünscht ihr euch angesichts der Zerstörung, ihr hättet gar nicht gegen das Regime rebelliert?
Was von der Revolution geblieben ist, sind wir, die überlebt haben. Geblieben sind die Ideen der Getöteten, die wir bewahren. Geblieben sind auch die 300.000 Gefangenen und Gefolterten in den Gefängnissen des Assad-Regimes. Geblieben sind auch die Plakate von Kafranbel und unser Traum von Freiheit und Gerechtigkeit. Auch wenn er von den Auseinandersetzungen ganz schön mitgenommen ist, lebt dieser Traum weiter. Das einzige, was wir bereuen, ist, dass wir nicht früher mit der Revolution begonnen haben und zugelassen haben, dass das Regime als Tötungsmaschine stärker geworden ist.
Ihr gehört keiner bewaffneten Gruppe an. Warum steht ihr dann sowohl bei ISIS als auch beim Regime auf den Todeslisten?
Für den Terror von Regime und ISIS ist die zivile Bewegung eine Gefahr, weil sie auf Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie abzielt, aber diese ISIS und Regime unmöglich machen. Die zivile Bewegung ist die einzige Strömung der Revolution, welche in der Lage sein könnte, die Gebieten zu regieren, aus denen das Regime verdrängt wurde. Das Regime versucht zu verhindern, dass stabile Regionen entstehen können. Es will die Revolution so darstellen, als könnten sich die Menschen nicht selbst organisieren. Deshalb lässt es auch ISIS gewähren oder unterstützt es sogar, weil es daneben so gemäßigt und geordnet aussieht.
Gibt es noch bewaffnete Einheiten, denen ihr glauben könnte, dass sie die Interessen der AktivistInnen vertreten?
Nein. Aber es gibt Gruppen, die uns viel näher stehen als ISIS und Jabhat al-Nusra.
In Yarmouk waren schon immer alle Fraktionen der palästinensischen Bewegung vertreten. Welche Rolle hat die Pälestinensische Befreiungsorganisation PLO gespielt, die ja schließlich gute Kontakte zum Assad-Regime unterhält?
Es ist heikel, über die PLO und ihre Rolle in der syrischen Revolution zu sprechen, dafür bräuchte es eine eigene, ausführliche Abhandlung. Ich kann jedoch zusammenfassend sagen: Vom ersten Tag des Aufstands gegen das Regime an haben alle palästinensischen Fraktionen keine gute Rolle gespielt. Es sind bis jetzt die zivilen AktivistInnen, die versuchen, den Menschen zu helfen und sie in allen Lebensbereichen zu unterstützen. Von der PLO kommen nur Pressemitteilungen und Statements.
Zehntausende palästinensische Flüchtlinge haben seit 1957 in Yarmouk Unterschlupf gefunden und sich dort ihr Leben aufgebaut. Gibt es hier noch die Chance auf Zukunft und was bedeutet Yarmouk für die Palästinenser?
Als physischer Ort ist Yarmouk zerstört, aber als Idee wird es weiterleben.
Wie sieht es mit Dir persönlich aus, seid ihr gerade in Sicherheit?
In ganz Syrien gibt es keine Sicherheit mehr, nur noch relative Sicherheit. Die Gefahr ist überall und kommt von allen Seiten: vom Assad-Regime, von Jabhat al-Nusra, von ISIS. Ich würde zusammenfassen: Wir leben noch, aber es bleibt uns gerade auch nur das Leben.
Übersetzung: Faris al-Ahmad
Die AktivistInnen des Watad Centers wissen noch nicht, wie es für sie in den nächsten Wochen und Monaten weitergehen wird. Sie sind noch immer in Gebieten, die vom Assad-Regime belagert werden. Egal, ob sie sich im Ausland in Sicherheit bringen oder in Syrien weiter für Freiheit und Demokratie einsetzen wollen, wir werden ihnen weiter zur Seite stehen. Helfen Sie mit, unterstützen Sie die Arbeit der jungen syrischen Zivilgesellschaft!
Herzlichen Dank für Ihren Beitrag!
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