Don’tSuffocateTruth: Mit dieser Kampagne erinnern Syrische Aktivist*innen an das Giftgasmassaker von OstGhouta vor sieben Jahren. Motiv: ActForGhouta

Sieben Jahre Giftgasmord – sieben Jahre Straflosigkeit

Heute vor sieben Jahren starben in Ost-Ghouta rund 1.300 Männer, Frauen und Kinder beim bislang schwersten Giftgasangriff im Syrien-Krieg. Die Täter wurden bis heute nicht bestraft. An dieses ungesühnte Kriegsverbrechen müssen wir immer und immer wieder erinnern – bis es Gerechtigkeit gibt. Auch in Deutschland.

Don’tSuffocateTruth: Mit dieser Kampagne erinnern Syrische Aktivist*innen an das Giftgasmassaker von OstGhouta vor sieben Jahren. Motiv: ActForGhouta

Heute vor sieben Jahren trafen mit Sarin bestückte Boden-Boden-Raketen mehrere Orte der damals oppositionell kontrollierten damaszener Vorstadtregion Ghouta, unter anderem die Städte Erbin, Zamalka, Duma, Daraya und Muadamiyah. Rund 1.300 Menschen starben an den Folgen, viele weitere wurden verletzt.

Auch in Deutschland leben Menschen, die diese Giftgasattacke vom 21. August 2013 überlebt oder miterlebt haben. Viele lässt das damals Erlebte bis heute nicht los: Familien, die wie schlafend tot in ihren Häusern oder auf der Straße lagen, ohne äußere Verletzungen. Die Szenen in den Krankenhäusern, in denen Ärzte*innen und Ersthelfer*innen um das Leben der vielen vom Nervengas schwer vergifteten Menschen kämpften.

Mehr Hintergründe, mehr Wissen: Zum Themendossier »Chemiewaffen«

Und ganz besonders: Die Tatenlosigkeit der Internationalen Gemeinschaft: Nur die Tatwaffen mussten die Täter abgeben, und nicht einmal das geschah vollumfänglich. Die Straflosigkeit führte dazu, dass sich Giftgasangriffe in den folgenden Jahren in Syrien wiederholten und sich bis heute weiterhin wiederholen können.

Erstickt nicht die Wahrheit!

In verschiedenen Ländern wenden sich heute Syrer*innen unter dem Motto “Don’t Suffocate Truth” an die Öffentlichkeit und erinnern an das Massaker, indem sie gelbe Rosen verteilen.

On August 21st of this year, we will launch a yearly ritual of distributing yellow roses in all of our locations, along…

Gepostet von Ghouta am Freitag, 14. August 2020

Die Aktivist*innen wenden sich mit der Aktion insbesondere gegen die massiven Desinformationskampagnen, mit denen das Assad-Regime, die russische Regierung und andere Akteure das Verbrechen selbst oder die erdrückende Beweislast leugnen, die für die Täterschaft des Assad-Regimes spricht.

Zur Kampagne auf Facebook

»Die Kampagne wendet sich gegen diese Verleugnung und will den Überlebenden zeigen, dass wir hier sind und an dieses Verbrechen erinnern. Es geht uns um Gerechtigkeit für die Opfer und darüber hinaus darum, dass endlich mehr unternommen wird, den Einsatz von Chemiewaffen zu unterbinden, nicht nur in Syrien, sondern weltweit.«

Die Initiator*innen der Kampagne #Don’tSuffocateTruth

Täterschaft des Assad-Regimes mehr als wahrscheinlich

2013 erhielten die Vereinten Nationen und die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) kein Mandat, um die Täter des Angriffs zu ermitteln. Sie durften in Ost-Ghouta nur untersuchen, ob Giftgas eingesetzt wurde, nicht aber von wem. Die Täterschaft wurde daher nie offiziell festgestellt. Dies hat Raum gelassen für die Verbreitung von Verschwörungsmythen, nach denen der Angriff eine False-Flag-Aktion gewesen sei, um die USA zum Kriegseintritt zu bewegen. Dies ist jedoch nicht passiert. Das Assad-Regime musste im Nachgang der Tat nur seine chemischen Waffen abgeben.

Ganz offensichtlich geschah nicht einmal das vollumfänglich: Bei weiteren Angriffen mit Chemiewaffen in Syrien konnten die Vereinten Nationen und die OPCW die Täterschaft des Assad-Regimes belegen: Am 4. April 2017 setze das Assad-Regime in Khan Sheikhoun Sarin ein, das den gleichen chemischen Fingerabdruck hatte wie das 2013 in Ghouta verwendete Giftgas. In Khan Sheikhoun starben mindestens 86 Menschen an dem chemischen Kampfstoff.

Wie Deutsche Unternehmen das syrische Chemiewaffenprogramm unterstützten

Zuletzt veröffentlichte die OPCW im April 2020 einen Bericht, der zwei weitere Sarin-Angriffe durch Assads Luftwaffe bestätigt, die im März 2017 auf die Stadt Ltamenah in der Provinz Idlib verübt wurden. Insgesamt untersuchten die UN 37 Giftgasangriffe, für 32 der Angriffe machen die UN das Assad-Regime verantwortlich. Eine Studie des Global Policy Instituts dokumentiert über 300 Giftgasangriffe des Regimes. Sie zeigt, dass neben Sarin auch Chlorgas als Kampfstoff systematisch eingesetzt wird.

Der Angriff erfüllte seinen Zweck

Ein oft wiederholtes Argument von Verschwörungstheoretikern lautet bis heute, Giftgaseinsätze seien gar nicht im Interesse des Assad-Regimes. Tatsächlich sind Giftgaseinsätze aber eine konsequente Steigerung der Kriegsführung: Wer Zivilist*innen mit Fassbomben traktiert, um sie durch maximalen Terror in die Unterwerfung zu zwingen, hat mit Giftgas eine weitere Waffe zur Hand, die selbst die Menschen im Luftschutzkeller erreicht. Giftgas löst maximale Panik und Verzweiflung aus, und das war immer ganz im Sinne des Regimes.

Der Giftgas-Angriff, vor allem aber die Straflosigkeit des Einsatzes, hatte mit großer Sicherheit politische Folgen: Saeed al Batal, Medienaktivist aus Ost-Ghouta und Filmemacher (“Still Recording”) erinnert sich an den 21. August 2013 und beschreibt, wie die Tatenlosigkeit der Weltgemeinschaft dem Erstarken dschihadistischer Gruppen zu Gute kam – und damit auch dem Assad-Regime und seinem Narrativ des “Kriegs gegen den Terror”.

Das Massaker steht für viele weitere

Der Medienaktivist Nizar Al Haj Ali aus Erbin erinnert heute an den Angriff:

»Wir müssen an diesen Angriff erinnern, weil die hunderten Opfer bis heute nicht zu ihrem Recht gekommen sind und die Täter weiter frei sind und Unterstützung gewisser Staaten erhalten. Dieses Massaker steht für etliche andere Massaker, die an uns begangen wurden“.

Nizar Al Haj Ali

Nizar befand sich während des Angriffs in Damaskus und half von dort aus dabei, von seinen Kolleg*innen in Erbin aufgenommene Bilder und Videos des Angriffs international zu verbreiten. Nizar Al Haj Ali lebt heute in Lübeck.

In Deutschland leben viele Syrer*innen, die vom Angriff betroffen waren – ob direkt oder indirekt. Für viele oppositionelle Syrer*innen steht der Giftgasangriff für die bislang bitter enttäuschte Hoffnung, dass das Morden des Assad-Regime durch internationales Eingreifen gestoppt wird oder es für seine Taten bezahlen muss.

Auch wenn die Zahl der Giftgas-Opfer im Syrien-Krieg gegenüber der Zahl der Opfer konventioneller Waffen wie Fassbomben verschwindend gering ist, galt der Einsatz chemischer Waffen in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg lange als schwerster militärischer Tabubruch. Dass selbst diese Taten nicht mehr geahndet werden, wird daher auch international zurecht als Gipfel der Straflosigkeit angesehen.