Sechs Jahre Giftgasangriff auf Ost-Ghouta: Was wir damit zu tun haben

Der Einsatz von Giftgas gilt als schlimmstes Kriegsverbrechen und ist international geächtet. Trotz EU-Embargo und laufendem Krieg waren deutsche Konzerne noch 2014 am Export von waffenfähigen Chemikalien nach Syrien beteiligt. Über geltendes Recht, moralisches Versagen und eine deutsche Tradition.

Aufbauhilfe unter „Freunden“

„Ich habe bis jetzt kein militärisches Eingreifen angeordnet, aber für uns ist eine rote Linie überschritten, wenn eine ganze Menge chemischer Waffen bewegt oder eingesetzt wird.“
(US-Präsident Barack Obama auf einer Pressekonferenz 2012)

Es ist der 21. August 2013, als sich das Giftgas seinen leisen, tödlichen Weg durch die Straßen der Oppositionsviertel von Ost-Ghouta bahnt. Innerhalb von Minuten ersticken Kinder, Frauen, Männer, junge und alte Menschen. Alle Opfer haben Atemprobleme. Viele sind bleich und haben Schaum vor dem Mund, insbesondere die Kinder. Ihre Pupillen sind ganz klein, die Region um den Mund und die Nase wird grau. Insgesamt 1.338 Menschen sterben in dieser Nacht in den östlichen und westlichen Vorstädten von Damaskus an den Folgen einer Giftgasattacke.

Der weltweit schwerwiegenste Chemiewaffeneinsatz seit 25 Jahren ist mittlerweile einer von hunderten in Syrien. Und er war auch nicht der erste, seit die Zivilbevölkerung 2011 für Demokratie auf die Straßen zog. Seit Ausbruch der Revolution kommt in Syrien immer wieder Giftgas gegen die Bevölkerung zum Einsatz. 37 Giftgas-Angriffe hat die Syrien-Untersuchungskommission der Vereinten Nationen (UN) bis dato überprüft, 32 konnte sie dem Assad-Regime zuordnen. So viele Verschwörungstheorien sich um den Angriff auf Ost-Ghouta von 2013 auch ranken: Auch hier ist die Täterschaft des Assad-Regimes so gut wie sicher.

Nachdem der syrische Diktator mit dem Giftgaseinsatz in Ost-Ghouta die berühmte „rote Linie“ überschritten hatte, reagierten die USA nicht – wie 2012 angekündigt – mit einem Militäreinsatz, sondern rangen Assad lediglich die Verpflichtung ab, sein Chemiewaffenarsenal abzugeben. Deutschland half bei der sicheren Vernichtung jener chemischen Kampfstoffe, die das Regime unter Hafiz Al-Assad in den 1980er Jahren produziert hatte – und zwar mit deutscher Unterstützung.

Bauteile, Pläne und Chemikalien aus Deutschland

Zwischen 1982 und 1993 gingen mehr als 50 deutsche Lieferungen an das syrische Regime, die für die Produktion von Chemiewaffen verwendet wurden – darunter Bauteile und Steuerungsanlagen, Projektskizzen für den Bau von zwei Anlagen für die Produktion von Vorstoffen und 2.400 Tonnen einer Schwefelsäure, die zur Produktion von Sarin genutzt werden kann – jenen Giftgases, das auch in Ost-Ghouta zum Einsatz kam. Die Verteidigungslinie der Bundesregierung lautet bis heute: Zum damaligen Zeitpunkt haben noch keine Genehmigungspflichten oder sonstige Kontrollverfahren bestanden.

Dennoch: Die Lieferungen fielen in eine Zeit, in der das Assad-Regime seine Skrupellosigkeit gegenüber der eigenen Bevölkerung bereits demonstrativ zur Schau gestellt hatte. Im Februar 1982 ging das Massaker von Hama in die Geschichtsbücher ein. Bei Angriffen auf die Einwohner der Stadt durch die syrische Armee wurden zwischen 10.000 und 40.000 Menschen innerhalb kürzester Zeit getötet. Für die deutsche Wirtschaft und die Bundesregierung blieb Syrien dennoch ein legitimer Handelspartner.

Aus der Geschichte nichts gelernt

Dabei muss der deutschen Bundesregierung spätestens 1988 klar gewesen sein, wie gefährlich und tödlich chemische Kampfstoffe in den Händen von Diktatoren sind. Denn auch den Irak hatten deutsche Unternehmen in den 1980er Jahren bei der Aufrüstung seines Chemiewaffenarsenals unterstützt – mit biologischen und chemischen Kampfstoffen und mit Wissen der Bundesregierung. Ein folgenschwerer Handel, der im schwersten Giftgasangriff seit dem Ersten Weltkrieg endete.

Von insgesamt 22 deutschen Firmen kamen 70 Prozent der Technologie zum Aufbau des irakischen Chemiewaffenprogramms.

Friedhof für die Opfer von Saddams Giftgasangriff aufs irakisch-kurdische Halabja

Der damalige irakische Machthaber Saddam Hussein bombardierte die kurdische Stadt Halabja mit Senfgas und Nervenkampfstoffen wie Tabun und Sarin. 5.000 Menschen – fast ausschließlich Zivilist*innen und primär Kinder und Frauen – erstickten in der 70.000 Einwohner großen Stadt qualvoll und verbrannten innerlich. 10.000 Menschen erlitten schwerste Verletzungen, viele weitere Menschen starben an den Spätfolgen. Die Aufnahmen von Müttern, die im Todeskampf noch irgendwie versuchten, ihre Säuglinge zu schützen, gingen um die Welt und rangen der deutschen Regierung zumindest ein Statement der Verurteilung ab. Die Lieferungen aus Deutschland für das syrische Chemiewaffenprogramm gingen derweil weiter.

Deutschland räumt seinen Dreck weg

Noch 2011 wurde chemiewaffentaugliches Material, darunter Substanzen, die auch für die Produktion von Sarin verwendet werden können, von deutschen Firmen an Syrien geliefert. An ein Regime, das die Chemiewaffenkonvention (CWK) bis dahin nicht unterschrieben hatte.

Chemiewaffenkonvention
Das internationale Abkommen ächtet chemische Waffen vollständig. Zur Kontrolle und Durchsetzung der Konvention wurde die die Organisation für das Verbot chemischer Waffen geschaffen (OPCW).

Die Bundesregierung hingegen ist sich keiner Schuld bewusst und stellt fest, das „sämtliche Genehmigungen nach sorgfältiger Prüfung aller eventuellen Risiken, einschließlich der Missbrauchs- und Umleitungsgefahren im Hinblick auf mögliche Verwendungen im Zusammenhang mit Chemiewaffen, erteilt“ wurden. Eine Kontrolle, wie es das CWK vorsieht, hatte in Syrien offensichtlich nicht stattgefunden.

Nun, 20 Jahre nach der tatkräftigen Unterstützung beim Aufbau des syrischen Chemiewaffenarsenals und viele Opfer später, hilft die deutsche Bundesregierung 2014 dabei, syrische Chemiewaffen wieder zu entsorgen. Sie will damit „einen starken Beitrag zur Beseitigung der syrischen Chemiewaffen leisten“. Währenddessen lieferte zumindest eine deutsche Firma weiter munter Chemikalien nach Syrien.

Alles, was nicht explizit verboten ist, ist erlaubt?

Zuletzt 2014 exportierte der Essener Chemiegroßhändler Brenntag AG 5.120 Kilogramm Isopropanol und 280 Kilogramm Diethylamin an das syrische Pharmaunternehmen „Mediterranean Pharmaceutical Industries“ (MPI) mit Sitz in Damaskus. Beide Chemikalien können zur Herstellung von Arzneimitteln, aber auch zur Produktion von Kampfstoffen wie Sarin und VX dienen. Aus diesem Grund verhängte die EU bereits 2012 ein entsprechendes Embargo, das nach dem Giftgasangriff auf Ghouta noch einmal verschärft wurde. Seitdem gilt, dass alle Exporte von chemischen Stoffen einer genauen Prüfung unterzogen werden und eine explizite Genehmigung der Bundesregierung benötigen.

Eine solche Exportgenehmigung für Syrien hat es nach 2011 von Seiten der Bundesregierung nicht mehr gegeben. Die Schweiz ist da unkritischer. Daher nutzte die Brenntag AG für den Handel bewusst eine Tochterfirma in der Schweiz und ist sich keiner Schuld bewusst. Die Lieferung wurde „im Einklang mit dem geltenden Recht abgewickelt“. Auf den Lieferlisten sind die Hersteller und die Ursprungsländer verzeichnet – Belgien und Deutschland. Besonders brisant an der Lieferung: Zwischen MPI und dem Assad-Regime besteht eine enge Verbindung. Und: Auch nach der vermeintlichen Zerstörung all seiner Chemiewaffen hat Assad immer wieder Giftgas im Krieg gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt – etwa Sarin in Khan Sheikhoun 2017 und Chlorgas an vielen unerschiedlichen Orten, darunter in Douma im April 2018.

Die Schuldfrage

Die Brenntag AG fühlt sich rechtlich auf der sicheren Seite. Drei Nichtregierungsorganisationen Syrian Archive (Berlin), Open Society Justice Initiative (New York) und Trial International (Schweiz) stellten trotzdem Strafanzeige gegen den Großkonzern. Daraufhin leitete die Staatsanwaltschaft Essen im Juni 2019 ein Verfahren ein und prüfte die Aufnahmen von Ermittlungen. In der vergangenen Woche hat die Essener Staatsanwaltschaft den Fall dann zu den Akten gelegt. Es lägen keine rechtlich hinreichenden Anhaltspunkte für ein Vergehend des Konzerns vor, heißt es – es wird also keine Anklage gegen die Brenntag AG erhoben.

Rechtlich ist die Brenntag AG dank großer Schlupflöcher vermutlich tatsächlich auf der sicheren Seite. Moralisch ist das aber eine Bankrotterklärung – auch für die Bundesregierung. Die Interessen der deutschen Industrie sind ihr im Zweifelsfall wichtiger als effektive Exportverbote. So übergab die OPCW der Bundesregierung eine Liste mit Firmen, die Bauteile und Chemikalien für das Chemiewaffenprogramm Assads lieferte. Die Bundesregierung hält die Liste unter Verschluss. Das Argument: Geschäftsgeheimnisse.