In der Stadt Azaz, nördlich von Aleppo an der Grenze zur Türkei gelegen und unter türkischer militärischer Kontrolle, sind alle Einrichtungen des öffentlichen Lebens geschlossen. Der Lokale Rat, die Selbstverwaltung der syrischen Opposition, hat die Maßnahme zur Vermeidung einer Corona-Pandemie erlassen. Der Beschluss betrifft zivilgesellschaftliche Organisationen wie das von Adopt a Revolution unterstützte zivile Hooz-Zentrum genauso wie Moscheen und den Lokalen Rat selbst. Das Zentrum musste deshalb seine Aktivitäten einstellen, aber während Aktivist*innen sonst jeden Versuch der Einschränkung von kritischer Zivilgesellschaft als drohende Zensur ansehen, fällt ihr Urteil diesmal milder aus: „Die Entscheidung betrifft alle gleichermaßen, deshalb haben wir bislang nicht das Gefühl, dass mit der Entscheidung die Zivilgesellschaft zum Schweigen gebracht werden soll“, berichtet Wassim vom Hooz-Zentrum. „Schließlich tragen auch wir Verantwortung. Wir wollen nicht, dass das Zentrum zu einem Übertragungsort des Virus wird – und engagieren uns jetzt sogar noch weitergehend gegen die Pandemie.“
Corona kennt keine Grenzen
Denn die Mitarbeiter*innen des Zentrums drehen nun keineswegs Däumchen: Während sie sonst Debatten darüber anstoßen, warum Frauen und Männer unterschiedliche Rechte haben und warum es falsch ist, Mädchen schon jung zu verheiraten, entwickelt sich ihr Ziviles Zentrum jetzt beinahe in ein Zivilschutzzentrum.
In der lokalen Bevölkerung ist längst nicht allen klar, wie gefährlich das Corona-Virus wirklich werden kann. Manche glauben, Muslime seien grundsätzlich immun, andere denken, nachdem sie die Krisen der letzten Jahre durchgestanden haben, könne ihnen nichts mehr passieren. Auch dass Syrien ohnehin so isoliert sei, dass sie das Virus nicht erreichen könne, enttarnen die Aktivist*innen als Irrglaube mit ihrer engagierten Aufklärungsarbeit.
Erst Anfang dieser Woche wurden mehrere in Syrien stationierte türkische Soldaten positiv auf das Corona-Virus getestet und zur Behandlung in die Türkei gebracht. Von Azaz aus ist die Türkei das am schwersten von der Corona-Pandemie betroffene Land in der Region. Die Grenze ist lediglich sieben Kilometer entfernt – wegen der Kontrolle des türkischen Militärs gehören Soldaten und Beamte aus dem Nachbarland ins Alltagsbild. Zwar wird bei jeder Person, die hier nach Syrien einreist, Fieber gemessen und bei erhöhter Temperatur ein Test in einem türkischen Krankenhaus angeordnet. Doch kann die Krankheit auch symptomfrei verlaufen. Und ist das Virus erst einmal da, wird es kaum erkannt werden. Testkapazitäten gibt es auf der syrischen Seite der Grenze in dieser Region nämlich überhaupt keine.
Auch nicht im nahegelegenen al-Bab, wo das Hooz-Zentrum eine Zweigstelle unterhält. Auch diese Stadt gehört zum türkischen Einflussgebiet in Syrien, so dass die WHO keine Tests liefert, sondern annimmt, die Besatzungsmacht Türkei sei dafür verantwortlich. Hier sind die Gebiete unter Kontrolle des Assad-Regimes lediglich wenige Kilometer von der Stadt entfernt. Deshalb wollte der dortige Lokale Rat eine komplette Ausgangssperre erlassen als vor vier Wochen die ersten COVID-19-Fälle in Syrien aufgetreten sind. Doch die Maßnahme ließ sich nicht durchsetzen: Einer der Anführer der dominierenden Milizenfraktion protestierte, weil er um den Umsatz auf dem Gemüsemarkt bangte, woher er seine Einnahmen generiert. Der Streit eskalierte, dabei wurde eine Person getötet und die Ausgangssperre war vom Tisch. Dass Aktivist*innen nun dazu aufrufen, Menschenansammlungen zu vermeiden, ist da nur ein schwacher Ersatz, aber immerhin.
Lokaler Krisenstab: Gemeinsam gegen Corona
Aus Sicht des Aktivisten Wassim ist die Lage deshalb aktuell in der umkämpften Region Idlib sogar besser als in der türkischen Einflusszone, in der schon länger nicht mehr gekämpft wurde: „Dort gibt es wenigstens überhaupt Tests, davon können wir hier nur träumen. Die WHO hat hier nichts geliefert, weil die Türkei als Besatzungsmacht dafür verantwortlich sei. Von hier aus kannst du höchstens Speichel zur Untersuchung in die Türkei schicken – dabei müsste ein richtiger Test doch unter sterilen Bedingungen entnommen werden!“
Dabei gibt es die Hoffnung, dass sich das Virus bisher wirklich noch nicht größer verbreitet hat. In Azaz stehen aktuell lediglich 21 Personen vorsorglich unter Quarantäne, eine von ihnen ist erst vor Kurzem aus dem Libanon in die Region zurückgekehrt. Doch Wassim und die Aktivist*innen vom Zentrum bereiten dennoch den Ernstfall vor. In einem Treffen aller zivilgesellschaftlicher Organisationen mit dem Lokalen Rat wurde ein Krisenstab gebildet, der die Handlungsfähigkeit der lokalen Strukturen sicherstellen soll – und das Hooz-Zentrum übernimmt darin wichtige Aufgaben.
Vorbereitung auf den Notfall
Bereits vor einigen Wochen waren hundert Freiwillige aus der Region, darunter solche vom Hooz-Zentrum, in Idlib und haben an einer Corona-Schulung teilgenommen. Jede*r dieser ausgebildeten Personen unterweist derzeit wieder jeweils 100 weitere Menschen in Präventions- und Schutzmaßnahmen – mit diesem Schneeballsystem soll das grundlegende Verständnis für die Corona-Pandemie in alle Bevölkerungsgruppen verteilt werden. Zudem hat der Krisenstab gemeinsam mit dem Lokalen Rat und den Gesundheitszentren eine Corona-Karte erstellt: Bei Verdacht auf eine Infektion sind ausgewählte Personen für die Betreuung der Betroffenen in Quarantäne zuständig. Bei steigender Ansteckungsrate wird die Polizei eine komplette Ausgangssperre verhängen, zunächst für den Bezirk, dann auch darüber hinaus.
In diesem Szenario übernimmt das Hooz-Zentrum die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln. Deshalb arbeiten die Aktivist*innen derzeit mit Hochdruck an einem System, wie die Lebensmittel besorgt, gelagert und verteilt werden können, ohne Ansteckungsketten zu erweitern.
„Die Versorgung der Menschen würde ein Kraftakt und wir müssen uns selbst auch schützen“, erklärt Wassim. „Schutzmittel sind zwar vorhanden, aber kaum bezahlbar. Eine Packung Gummihandschuhe kostet mittlerweile 16 Dollar – wer soll das bezahlen?“ Besonders komplex würde die Aufgabe in den 15 Flüchtlingslagern, die es rund um die Kleinstadt Azaz gibt. Denn dort leben die meisten Menschen als Tagelöhner von der Hand in den Mund. Sollte es zu einer Ausgangssperre kommen, könnten sich die Menschen schon nach kürzester Zeit keine Lebensmittel mehr leisten – und einkaufen dürfen sie dann auch nicht mehr.
Wassim gibt im Gespräch zu, dass er durchaus Respekt vor der Aufgabe und Angst vor dem Ernstfall hat, aber er versucht optimistisch zu bleiben: „Wir versuchen zu helfen, wo wir können. Aber natürlich brauchen wir dabei jede Unterstützung, die wir bekommen können“, mahnt Wassim und verweist darauf, dass letztlich alles hier improvisiert ist: „In al-Bab gibt es einige gute Mediziner*innen, nach einer Anleitung italienischer Ärzt*innen versuchen sie gerade, Beatmungsgeräte nachbauen.“
Adopt a Revolution unterstützt die improvisierten Corona-Hilfen für Geflüchtete in Syrien – helfen Sie mit Ihrer Spende mit, diese wichtige Arbeit zu ermöglichen!