„Nordsyrien könnte eine Belagerung wie in Ost-Ghouta erwarten“

Abseits der Öffentlichkeit spitzt sich die humanitäre Situation in Nordsyrien derzeit massiv zu: Für vier Millionen Menschen steht die Versorgung mit Lebensmitteln auf dem Spiel, weil Preise explodieren und die UN ihre Hilfen reduziert hat. Den finalen Todesstoß könnte Russland der Region im Juli geben – mit einem Veto im UN-Sicherheitsrat für humanitäre UN-Hilfen.

Vier Millionen Menschen leben in Nordsyrien, rund 2,7 Millionen sind Binnenvertriebene. Sie hausen in Lagern, Zelten oder Holzverschlägen und haben keinen sicheren Zugang zu Nahrung, sauberem Trinkwasser oder Gesundheitsversorgung. Dem Rest der Bevölkerung geht es kaum besser – ca. 97 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze. Selbstversorgung fällt da schwer, mittlerweile ist es für die Mehrheit sogar nahezu unmöglich geworden.

Denn durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sind die Lebensmittelpreise explodiert: der Preis für Brot, Zucker, Obst und Gemüse hat sich verdoppelt und auch Pflanzenöl und Weizenmehl sind für die meisten Menschen nicht mehr bezahlbar. Tendenz: weiter steigend. Nahrung wird somit zunehmend unerschwinglich für viele Menschen.

„Die wirtschaftliche Lage in Idlib war schon vorher verheerend, aber der Ukraine-Krieg hat sie weiter verschärft. Das ist besonders problematisch, da die humanitären Hilfen und Projektgelder die Grundbedürfnisse der hunderten Flüchtlingslager und auch ein Stück weit die Grundlage von Einkommen und Löhnen und finanzieren den Gesundheits- und Bildungssektor abdecken müssen.“

Unser Partner Mohammad Shakerdy vom Zivilen Zentrum Atareb

Zum Leben zu wenig


Gleichzeitig hat das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) seine lebensrettende Nahrungsmittelhilfe für den Nordwesten Syriens gekürzt – nachdem bereits im September 2021 die monatlichen Lebensmittelkörbe verkleinert worden waren. Die Menge an Pflanzenöl, Weizenmehl, Salz und Zucker blieb zwar gleich, aber Linsen, Kichererbsen, Reis und Bulgur gibt es seit Mai nur noch in geringerer Menge. Grund für die erneuten gravierenden Sparmaßnahmen der UN-Organisation sind Finanzierungsengpässe und die durch den Krieg in der Ukraine in die Höhe geschossenen Lebensmittelpreise.

„Die humanitäre Hilfe, die hier in Idlib in den Camps ankommt, war schon immer viel zu wenig und reichte – wenn überhaupt – nur gerade so zum Überleben. Viele Camps erreichte nur alle paar Monate eine Lieferung und jetzt wird noch weiter reduziert. Das ist eine Katastrophe und befeuert die Gewaltspirale innerhalb und außerhalb der Camps – weil es hier ums nackte Überleben geht.“

Unsere Partnerin Huda Khaitly, Leiterin des Women Support & Empowerment Centers

Millionen Menschenleben in Gefahr

Nun droht auch noch die Schließung des einzig verbliebenen Grenzübergangs Bab al-Hawa, über den die wenige noch verbliebene humanitäre Hilfen überhaupt noch in die Region gelangt. Denn am 10. Juli läuft die Genehmigung des UN-Sicherheitsrates für humanitäre Hilfslieferungen von UN-Organisationen aus. Sollte der Zugang für die Hilfe bis dahin nicht verlängert werden, droht ein Zusammenbruch der Versorgung der rund vier Millionen Menschen. Das Szenario ist nicht unwahrscheinlich: Denn Russland hat bereits in den Vorjahren regelmäßig damit gedroht, per Veto den Übergang für UN-Hilfe zu schließen. Im vergangenen Jahr konnte das nur in letzter Sekunde und mit vielen Zugeständnissen der westlichen Staaten verhindert werden. Ob das dieses Jahr wieder gelingt und welche Opfer dafür erbracht werden müssen, ist angesichts der Fortsetzung des russisch-westlichen Konflikts auf politischer und wirtschaftlicher Ebene durch den Ukraine-Krieg fraglich.

Ohne eine Einigung müssten fortan alle Hilfslieferungen über Damaskus laufen und würden vom Assad-Regime „verteilt“. Ein Horrorszenario für die vier Millionen Menschen in Idlib.

„Sollte der Grenzübergang geschlossen werden, befinden sich vier Millionen Menschen in einer Belagerung. Das Regime wird dafür sorgen, dass keine Hilfen mehr bei uns ankommen. Damit sind noch mehr Menschen bedroht, weil sie verhungern, sich Krankheiten ausbreiten und der letzte Rest an medizinischer Infrastruktur zusammenbricht. Ich habe die Belagerung in Ost-Ghouta überlebt, und weiß deshalb genau was uns erwarten kann.“

Huda Khaitly

Ein Entkommen für die Betroffenen gibt es nicht. Die Menschen in Nordsyrien können weder vor noch zurück, denn auf der einen Seite steht das Assad-Regime, auf der anderen Seite hat die Türkei ihre Grenze abgeriegelt – mit Unterstützung der Europäischen Union. Diese möchte eine neue Fluchtbewegung nach Europa verhindern und hat deshalb starkes Interesse daran, dass die humanitäre Hilfe weiterläuft oder zumindest die Fluchtwege abgeschnitten werde .

Denkbar wäre deshalb, dass die EU-Mitgliedsstaaten und Geberländer humanitäre Hilfslieferungen auch ohne UN-Mandat über die Grenze bringen, wenn sich der UN-Sicherheitsrat nicht auf eine Verlängerung des Mandats einigen sollte. Eine grundlegende Lösung für Nordsyrien kann aber auch das auf Dauer nicht ersetzen.