Dair az-Zor: Eine Stadt zwischen Regime und ISIS

Dair az-Zor liegt am Euphrat. Die Grenze zum Irak liegt nur einige Kilometer weit entfernt. Ursprünglich war es ein ruhiges Städtchen. Ein wenig abseits gelegen von den großen Ballungszentren Syriens ist Dair az-Zor nur beschwerlich zu erreichen. Heute ist der Großteil der Stadt zerstört. Elektrizität und fließend Wasser gibt es nur noch in den zwei […]

Dair az-Zor liegt am Euphrat. Die Grenze zum Irak liegt nur einige Kilometer weit entfernt. Ursprünglich war es ein ruhiges Städtchen. Ein wenig abseits gelegen von den großen Ballungszentren Syriens ist Dair az-Zor nur beschwerlich zu erreichen. Heute ist der Großteil der Stadt zerstört. Elektrizität und fließend Wasser gibt es nur noch in den zwei Stadtteilen, die vom Regime kontrolliert werden. Bashar ist Arzt und in dieser Stadt aufgewachsen. Eigentlich ist er Urologe, aber die Revolution hat sein Leben verändert.

Als Arzt vom Spezialisten zum Helfer in allen Lagen

Als Arzt in einem Untergrundkrankenhaus nahe der Front ist er zum Chirurgen und sogar zum Geburtenhelfer geworden. Ärzte gibt es fast keine mehr in Dair az-Zor. Die, die bleiben, behandeln und übernehmen alles – Schußwunden, Amputationen, Geburten. Die Bedingungen, unter denen sie arbeiten, sind katastrophal, die medizinische und technische Ausrüstung beschränkt sich auf das Rudimentärste. Doch diese humanitäre Arbeit machte ihn zum Gesuchten vom Regime. Jeder, der nicht in den staatlichen Krankenhäusern arbeitet, ist gefährdet, denn er wird beschuldigt, die Aufständischen zu unterstützen. Unkoordiniert haben die Schergen des Regimes mal seinen Vater, mal seinen Bruder verhaftet, im Glauben sie hätten ihn gefangen genommen. Doch die Situation ist für Bashar und seine Familie zu gefährlich geworden. Aus diesem Grund hat er widerwillig die Flucht über die Türkei nach Deutschland angetreten.

Vor dreieinhalb Monaten ist er in Berlin angekommen. Der schlanke Mann ist voller Tatendrang und möchte auch hier in Deutschland helfen. Die ersten Schritte sind Deutsch lernen und auf das Asylverfahren warten. Nun sitzt er vor uns, in dem Büro von Adopt a Revolution. In einem weißen Hemd, einer dunklen leichten Hose, mit einer ledernen Umhängetasche. Mit seinen schlanken, langen Hände gestikuliert er, um seine Antworten auf Arabisch und in gebrochenem Englisch zu unterstreichen. Wir wollen von ihm wissen, wie geht es den Menschen, was denken, wen unterstützen, was glauben sie und wie funktioniert das Leben noch in Dair az-Zor.

Die geteilte Stadt

Die Stadt, die vor der Revolution 500.000 Einwohner hatte, also einst der Größe von Nürnberg entsprach, ist zweigeteilt. Den Westen mit rund 250.000 Bewohnern kontrolliert das Regime, im östlichen Rest der Stadt leben nur noch ungefähr 13.000 Menschen. Alle anderen sind geflohen oder in den Westen der Stadt gezogen. Denn obwohl die Menschen in den “befreiten Gebieten”, wo also das Regime nicht mehr das Sagen hat, positiv über die Revolution sprechen, dominiert die materielle und ökonomische Not. In den vom Regime kontrollierten Bereichen gibt es zumindest einige Stunden am Tag Strom und teilweise noch fließend Wasser.

Einige, die die Flucht ergriffen, haben es direkt in die Türkei geschafft. Andere sind zuerst in die kurdischen Gebiete geflohen, wo sie allerdings keine langfristige Perspektive sahen und weiter in die Türkei oder zurückkehrten. In Dair az-Zor selbst jedoch gibt es keine weiteren konfessionellen Spannungen, denn vor allem leben dort Sunniten. KurdInnen, AlawitInnen und andere Minderheiten sind nur marginal vertreten.

Ein weiterer Flüchtlingsstrom ist in die Provinz Raqqa geflohen, doch als dort die Extremisten von ISIS, also „Islamischer Staat im Irak und Großsyrien“ die Kontrolle übernahmen, sind viele weiter in die Türkei gezogen oder auch zurück in die vom Regime kontrollierten Gebiete ihrer Heimatstadt gegangen. Dort sind sie wenigstens sicher vor den Fassbomben des Regimes. Die Luftwaffe wirft weiter täglich vier bis sechs Fassbomben auf die Stadt und Provinz Dair az-Zor, außer auf den Stadtabschnitt, den es selbst kontrolliert.

Keiner glaubt mehr an Assad, doch vor ISIS haben alle Angst

Kaum jemand, erzählt Bashar, glaubt in der Stadt noch, dass Assad noch einmal in der Lage sein wird, das gesamte Land zu regieren geschweige denn zu vereinen – auch nicht dort, wo das Regime regiert. Mittlerweile stehen die meisten Städte entlang des Euphrats unter Selbstkontrolle durch lokale Räte. Doch diese wiederum sind davon abhängig, dass die bewaffneten Kräfte, die vor Ort sind, sie agieren lassen. Denn egal welche bewaffnete Gruppe gerade die Macht hat, eine der wichtigsten Finanzquellen sind immer inoffizielle Steuereinnahmen.

In den “befreiten Gebieten” der Provinz Dair az-Zor konnte sich ein recht stabiles ökonomisches Leben entwickeln, da neben Öl und Gas auch Getreide und Zucker angebaut werden. Diese Güter werden von Geschäftsmännern gekauft und in die Türkei und den Irak exportiert. Doch außer für Exportgüter bleibt die irakische Grenze weiterhin geschlossen. So werden weder Hilfsgüter hinein noch Menschen aus Syrien heraus gelassen. Auch internationale Hilfsorganisationen sind in Dair az-Zor eigentlich nicht anzutreffen. Unterstützung, etwa für Binnenflüchtlinge, gibt es wenn dann direkt aus der lokalen Bevölkerung oder von den moderaten Islamisten.

Es ist kein Geheimnis, dass sie die Sympathien der Bevölkerung als auch der AktivistInnen haben. Im Gegensatz zu ISIS. Aber die ländlichen Stammesstrukturen sind vielerorts stark und oppotunistisch. Sie wenden sich immer denjenigen zu, die gerade die militärische Oberhand haben – zur Zeit sind das die moderaten Islamisten.

In den Regionen der Provinz Dair az-Zor, wo das Regime nicht mehr präsent ist, übernehmen zivile Strukturen die Selbstverwaltung. Sie koordinieren humanitäre Hilfe, so gut es geht und bauen mit ihren Projekten an einer demokratischen Zukunft für Syrien. Unterstützen Sie die junge syrische Zivilgesellschaft mit Ihrer Spende!

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LCC-Statement zur Lage in Dair az-Zor

Doch im Gegensatz zur Provinz eskaliert die Situation in der Stadt Dair az-Zor. Denn durch das Erstarken von ISIS im Irak spitzt sich auch die Lage in Dair az-Zor zu. Aufgrund dessen hat das Netzwerk Local Coordination Comitees (LCC) vor sechs Tagen ein Statement herausgebraucht. Darin rufen sie sowohl Regime als auch ISIS Anhänger auf, die Situation zu entschärfen und wieder Lebensmittel in die belagerten Viertel zu lassen.

Seit 8 Tagen sind die einst vom Regime befreiten Viertel Dair az-Zor von ISIS belagert. Nun hat ISIS die Brücke Jesr al-Siyasieh (“Brücke der Politik”, benannt nach dem dort gelegenen Gebäude der Staatssicherheit) erobert und dort ihre Scharfschützen positioniert. Diese Brücke war der einzige Zugang zu den vom Regime befreiten Vierteln. Somit hat ISIS den einzigen Weg, Nahrungsmittel und medizinische Güter in diese Gebiete zu bringen, abgeschnitten. Denn auf der anderen Seite sind die befreiten Viertel Dair az-Zor durch Regimekräfte belagert, die den anderen Teil der Stadt halten. Zudem wurden einige ZivilistInnen von den Scharfschützen der ISIS getötet und weitere verletzt, als sie versuchten, die belagerte Stadt zu verlassen.

Die Stadt leidet außerdem unter dem Ausfall von Wasser und Strom. Wer die Leitungen gekappt hat ist unklar. Zusätzlich gibt es einen gewaltigen Mangel an essentiellen medizinischen Gütern und Lebensmitteln, v.a. mangelt es an Tahine. Das ist der doppelten Belagerung geschuldet durch das Regime als auch durch ISIS.

Wir, von den LCCs, verlangen sowohl von Seiten des Regimes als auch von ISIS ein Ende der Blockade. Zudem fordern wir alle Kräfte auf, die in Verbindung mit dem Regime oder ISIS stehen, Druck auf diese Parteien auszuüben, damit die Belagerung beendt wird. Die Wege müssen wieder geöffnet werden, um Lebensmittel und medizinische Güter in die Stadt zu bringen. Außerdem müssen die betroffenen AnwohnerInnen in den zivilen Gebieten von den Auseinandersetzungen verschont bleiben.

Die lokalen Komitees in Syrien (LCCs)
11.06.2014

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