Bleiben und belagert und bombardiert werden – oder fliehen und Verhaftung riskieren? Vor dieser Entscheidung stehen viele Bewohner*innen Daraa al Balads – sofern sie sich eine Flucht überhaupt leisten können.

»Das Assad-Regime hegt einen unglaublichen Hass« – Bericht aus Syrien

Der Stadtteil Daraa al Balad wird weiter vom Assad-Regime und seinen Verbündeten belagert und beschossen. Ein ehemaliger Partner von Adopt a Revolution hat uns über die Situation vor Ort berichtet – und warum er mit seiner Familie bislang nicht geflohen ist.

Bleiben und belagert und bombardiert werden – oder fliehen und Verhaftung riskieren? Vor dieser Entscheidung stehen viele Bewohner*innen Daraa al Balads – sofern sie sich eine Flucht überhaupt leisten können.

Die Wasser- und Stromversorgung ist unterbrochen, schon lange gibt kaum noch Nahrungsmittel und keine gesundheitliche Versorgung, dafür seit Ende Juli Granat- und Raketenbeschuss: Die Situation in Daraa al Balad spitzt sich weiter zu.

Über die Hintergründe der Eskalation haben wir bereits berichtet. Jetzt sprachen wir mit einem ehemaligen Partner, der mit seiner Familie weiter in Daraa al Balad ausharrt. Wir geben ihm hier zu seinem Schutz das Pseudonym Ahmad. Ohnehin ist Ahmad schwer gefährdet, sollte er in die Hände des Assad-Regimes fallen. Als Mitglied des Medienkollektivs Nabaa, das in der Vergangenheit von Adopt a Revolution unterstützt wurde, steht er wohl auf Fahndungslisten. Medienaktivist*innen verfolgt das Regime besonders intensiv.

Belagerung und Bombardierung – oder Flucht und Verhaftung?

»Mir geht es hier wie vielen anderen«, sagt Ahmad. »Ich habe versucht meine Familie in ein anderes Gebiet in Sicherheit zu bringen und bleibe nun doch hier unter Beschuss. Denn ich weiß, dass die Alternative wäre die Verhaftung durch das Regime und dann der Einzug in dessen Militär.«

Es ist offenbar weiterhin möglich, die belagerte Zone von Daraa al Balad zu verlassen – allerdings nur, wen man bereit und in der Lage ist, extrem hohe „Wegegelder“ an die belagernden Bewaffneten zu zahlen. Nabaa berichtet, es koste 200.000 syrische Pfund pro Person, sich aus der beschossenen Zone zu retten – das sind rund zwei Monatslöhne eines Staatsangestellten.

Wer Daraa al Balad über die Schmuggel-Routen in die regimeontrollierte Gegend Daraa al Mahatta verlasse, müsse fürchten, dort Opfer von willkürlichen Verhaftungen oder anderen Repressionen zu werden, sagt Ahmad.

Noch im Mai 2021 demonstrierten Aktivist*innen in Daraa gegen die Wahl-Farce mit der sich Assad als Diktator Syriens “wiederwählen” ließ.

Viele der mittlerweile rund 20.000 Geflüchteten sind gezwungen, auf der Straße auszuharren oder in Massenunterkünften unterzukommen. »Die Situation ist auch in gesundheitlicher Hinsicht gefährlich: Es wurden inzwischen mehrere Corona-Fälle in den Aufnahme-Zentren für Geflüchtete festgestellt. Die Menschen schlafen mal wieder in Moscheen und Schulen unter extrem beengten Verhältnissen.«

Keine Mehllieferungen mehr – aus »Sicherheitsgründen«

»Das Regime hat ganz aktiv unterbunden, dass die öffentliche Bäckerei mit Mehl versorgt wird, also gibt es auch kein Brot. Das Regime hat das mit seiner typischen Ausrede erklärt: Daraa al Balad sei zu unsicher für Mehllieferung. Diejenigen unter uns, die noch ein bisschen Mehl gelagert hatten, backen nun selbst. Aber die Vorräte reichen bald nicht mehr.«

Wie bei bisherigen Hungerblockaden des Assad-Regimes gibt es Schmuggel-Aktivitäten. Dadurch sich oft auch die Belagerer selbst: »Es gibt Leute, die Essen hier nach Daraa al Balad hereinbringen. Aber es geht um kleine Mengen, mal ein Kilo Tomaten, mal ein Kilo Kartoffeln. Aber im Großen und Ganzen kommt hier sonst nichts rein.« 

»Wir trauen dem Regime schon lange Alles zu, aber irgendwie hatten wir trotzdem nicht erwartet, dass es so weit gehen würde. Die Menschen hatten bislang vor allem Angst vor Verhaftung und haben deswegen versucht, dem Einflussgebiet des Regimes fern zu bleiben. Dass es zur Belagerung kommt, hätten wir nicht erwartet.«

Ahmad*

Angst vor der Zerstörung Daraas

Bislang standen Daraa al Balad und andere Teile Daraas zwar offiziell unter Kontrolle des Regimes, wurden aber faktisch von ehemals oppositionellen Milizen kontrolliert. Diese haben sich im Zuge eines 2018 von Russland ausgehandelten Abkommens mit dem Regime „ausgesöhnt“. Daher hatte das Assad-Regime bislang auf Daraa al Balad und andere Gegenden der Region keinen vollen Zugriff. 

»Russlands Rolle war vor allem die eines Garanten für die Abmachung von 2018. Das sollte eine erneute Eskalation in Daraa vermeiden. Aber jetzt befürchten wir, dass die Zerstörung, die wir bislang gesehen haben, nichts sein wird im Vergleich zu dem, was wir noch erleiden könnten. Das Regime hegt einen unglaublichen Hass gegen uns, den man sich kaum vorstellen kann.«

Ahmad*
Luftangriffe auf Daraa im Jahr 2018. Foto: Nabaa Medienzentrum

Einer der Gründe für diesen Hass: Daraa ist die “Wiege der Revolution” von 2011. »Auch nach den Vertreibungen von 2018 blieb Daraa eine Art Leuchtturm, der nicht erlosch. Es fanden immer wieder Demonstrationen gegen das Regime statt – trotz der russischen Präsenz – und wir haben uns nicht zum Schweigen bringen lassen. Wenn Daraa und damit dieses Symbol des Widerstands ausgelöscht wird, dann wird es für das Regime einfacher sein, auch die anderen Gegenden zu unterdrücken.«

Wo bleibt die Solidarität?

In den Gegenden Daraas, auf die das Assad-Regime bislang keinen vollen Zugriff hat, gibt es immer wieder Solidaritätsbekundungen mit Daraa al Balad. In Nawa und Tafas (Bericht aus Tafas) etwa gab es einen Generalstreik gegen die Belagerung und Bombardierung Daraa al Balads, der als Hamza al-Kathib-Streik benannt wurde – nach einem vom Assad-Regime 2011 zu Tode gefolterten Kind

International aber beschränkt sich die Solidarität meist auf Äußerungen aus der syrischen Diaspora oder schmallippige politische Erklärungen. »Wir haben zwar etwas Solidarität gesehen, aber das reicht nicht aus«, sagt Ahmad.

Freie Fluchtwege – oder schlicht: Beendet die Belagerung!

Ahmads Forderungen sind einfach. »Es muss sofort einen humanitären Korridor geben: Menschen müssen fliehen können, die Kranken müssen evakuiert werden«, fordert Ahmad. Denn die Belagerungen töten immer wieder Menschen, die an behandelbaren Krankheiten leiden.

»Doch letztendlich fordern wir nicht nur, dass die Belagerung sofort aufgehoben wird, sondern auch die iranischen Milizen aus Daraa abziehen.«

Der Konflikt in Daraa ist hochgradig internationalisiert. Russland versuchte bislang, die iranischen Unterstützer des Assad-Regimes aus der Region fernzuhalten. Denn hier, nahe der jordanischen und israelischen Grenze, möchte sie Russland international als Stabilitätsgarant zeigen. Iranische Milizen haben einen großen Anteil an der aktuellen Eskalation. Das Beispiel Daraa ist vielleicht nur ein Vorbote für die kommende Konflikte zwischen Russland und Iran in Syrien.

Adopt a Revolution unterstützt zivile Aktivist*innen in Syrien, die sich gegen Diktatur und Islamismus zur Wehr setzen. Helfen Sie mit, stärken Sie die syrische Zivilgesellschaft mit Ihrer Spende!