Schüsse und Explosionen in Beirut – mindestens sechs Tote. Was als Demonstration von Hisbollah und Amal gegen den Richter begann, der die Investigationen zur Hafenexplosion leitet, artete in eines der schwersten Gefechte aus, das Beirut seit Ende des Bürgerkriegs gesehen hat. Maskierte Kämpfer der Hisbollah und anderer Milizen schießen wahllos in Stadtvierteln nahe des Justizpalastes umher. Menschen versuchen sich innerhalb ihrer Wohnungen an Orten zu verstecken, die die Kugeln nicht erreichen können.
Grausame Szenen haben vergangenen Donnerstag Erinnerungen an den 15 Jahre währenden Bürgerkrieg wachgerüttelt. Viele Libanes*innen fühlen sich auch deshalb an die 1980er Jahre erinnert, weil der Hotspot der Clashes u.a. das Viertel Tayyouneh war – schon zu Bürgerkriegszeiten eine wichtige Frontline zwischen Ost- und Westbeirut. Intergenerationale Traumata werden präsenter und viele Menschen sprechen vom Auswandern.
Wie ist es zu den Gefechten gekommen?
Die Hafenexplosion vom August 2020 ist immer noch weitgehend unaufgeklärt. Der Unfall passierte nicht einfach so, sondern vor dem Hintergrund von Korruption, erstarrter politischer Machtblöcke und kriegerischen Auseinandersetzungen in der Region. Es sind altbekannte Probleme, die auch die Protestbewegung ab dem 17.10.2019 auf die Straße bewegte.
Die Investigationen haben demnach einen hohen Stellenwert und werden vom Richter Tarek Bitar geleitet. Viele Libanes*innen setzen große Hoffnungen in ihn, auch der Zusammenschluss der Familien der Explosionsopfer unterstützt ihn. Da sich die Untersuchungen jedoch auch gegen Mitglieder der Hisbollah und Amal richten, versuchen diese beiden Parteien schon seit Wochen, ihn abzusetzen.
Am Montag hat Bitar einen Haftbefehl gegen den ehemaligen Finanzminister und Amal-Abgeordneten Ali Hassan Khalil ausstellen lassen, weil er einer Vorladung nicht gefolgt war. Erneut wurde Beschwerde gegen Bitar eingereicht, die jedoch erneut vergeblich blieb: Am Mittwoch bestätigte das Berufsgericht sein Mandat.
Mit dem Ziel, Bitars Ermittlungen zu verhindern, lief am Donnerstag eine Demonstration von Hisbollah- und Amal-Anhängern zum Justizministerium – bis auf die Demo geschossen wurde. Schnell wurde zurückgeschossen und es folgten ebenjene grausamen Szenen.
Für die Investigationen spielt auch die Neuzusammensetzung des Parlaments eine Rolle. Sobald das Parlament zusammentritt, stehen viele Abgeordnete wieder unter Immunität. Bitar versucht daher, das aktuelle Möglichkeitsfenster noch zu nutzen, doch Straßenschlachten vor dem Justizpalast erschweren diese Arbeit natürlich.
Was bedeutet das für die generelle Lage im Libanon?
Im Chaos der letzten Monate konnte die Hisbollah ihre Macht stärken. So hat die Partei zum Beispiel während der krassen Ölknappheit Öllieferungen aus dem Iran organisiert und öffentlichkeitswirksam verteilt.
Die Kämpfe sind eine reine Machtdemonstration der Hisbollah und ihrer Verbündeten. Letztendlich haben sie der libanesischen Öffentlichkeit die falsche Wahl gegeben zwischen Stabilität ohne Gerechtigkeit, oder Gerechtigkeit ohne Stabilität.
Aya Majzoub, libanesische Researcherin für Human Rights Watch
Der 17. Oktober ist auch ein Tag, um auf die Protestbewegung vom Herbst 2019 zurück zu blicken. Diese ist nicht zuletzt wegen der Hafenxplosion knapp ein Jahr später im August 2020 und der daraufhin eskalierenden Dauerkrise zum Erliegen gekommen. Auch unsere Partner*innen im Libanon berichten von zunehmender Erschöpfung. Trotz monatelanger Proteste wird die Situation nicht besser, selbst die Alltagsbewältigung wird immer schwieriger. Nahrungsmittel, Strom, Medizin und Benzin sind knapp und teuer.
In dieser Stimmung also erlebt Beirut einen so offensiven innerlibanesischen Konflikt, wie vielleicht seit Ende des Bürgerkriegs 1990 nicht mehr. Ähnlich wie nach Ende des Krieges versuchen die alten korrupten Eliten und Milizenführer, Aufklärung und Gerechtigkeit zu verhindern. Die Aussichten sind düster und die Probleme greifen tief. Eine einfache Lösung ist nicht in Sicht, doch eins ist sicher: Wenn sich westliche Regierungen sich weiter heraushalten, wird Libanons politische und wirtschaftliche Verbindung mit Syrien und dem Iran erneut stärker. Demokratischer und weniger korrput wird das Land damit nicht.
Auch in der aktuellen Krise organisieren unsere Partner*innen von Syrian Eyes Nothilfe. Dabei ist den Aktivist*innen wichtig, all diese Aufgaben ehrenamtlich zu übernehmen. Die spontane, unbürokratische Unterstützung ist Kern ihrer Arbeit. Spende jetzt für Lebensmittel- und Hygienepakete im Libanon!