Wie ist es aktuell im Libanon zu leben?

Wir haben mit Sarj und Ali gesprochen – ihre Berichte vom Alltag im Libanon sind erschütternd.

Der Strom ist meistens aus, es gibt kaum Benzin und das lähmt alle Sektoren des Landes. Jeden Tag gibt es Konflikte.
Ali Sheikh von Syrian Eyes

Der Libanon befindet sich schon seit Jahren in der Krise. Besonders drastisch war die Explosion im Hafen von Beirut im August 2020. Diese Explosion war kein Unfall, sondern die Folge von jahrelangem politischen Versagen und Korruption.

Die Regierung ist nach der Explosion zwar zurückgetreten, doch weil seit über einem Jahr keine neue Regierung gebildet werden konnte, ist sie weiterhin geschäftsführend im Amt. Das Land befindet sich in einer Patt-Situation, da die beiden verfeindeten Lager, das pro-syrische Bündnis „8. März“ und das Syrien-kritische Bündnis „14. März“, alle Entscheidungen blockieren können. Nun machen sich das politische Komplettversagen und die Schäden der rapiden Privatisierungspolitik bemerkbar.

Unser Partner Ali Sheikh von Syrian Eyes erzählt:

„Alles wird immer schlimmer. Der Strom ist meistens aus, es gibt kaum Benzin und das lähmt alle Sektoren des Landes. Telefonnetz, Internet, Bäckereien, Restaurants… Viele Läden mussten komplett schließen. Die Spannungen nehmen immer mehr zu. Jeden Tag gibt es Konflikte an verschieden Orten, besonders in den langen Schlangen, in denen Menschen auf Benzin oder Essen warten.“

Aktivist Ali Sheikh, Beirut
Schon im Februar war die Lage im Libanon sehr prekär, wie dieses Video zeigt.

Sarj ist ein 35-jähriger Landwirt in der Beeka-Ebene, der in einem Kollektiv organisiert ist. Er schreibt:

Die Strategien des Überlebens sind zu aller erst die familiäre Solidarität, dann kommt die nachbarschaftliche Solidarität, dann kommt der Schwarzmarkt
Sarj

„Wir hier auf dem Land haben noch mal eine andere Situation, insbesondere weil wir Farmen haben und viele Sachen selbst herstellen. Aber was für uns nun den Ausschlag gibt ist der Mangel an Benzin und Strom. Denn der Strom bringt unsere Wasserversorgung zum Laufen, sodass wir gießen können. Dass es jetzt keine Bewässerung gibt, macht uns große Sorgen. Wir haben zwar Solar-Energie, aber die geht nur an das Elektrizitätswerk in Zahla, weil wir keine Batterien haben. So haben wir bei einem Stromausfall beim Versorger in Zahla auch dann keinen Strom, wenn unsere Solar-Anlage eigentlich Strom produziert. Das ist ein Riesenproblem.

Die Strategien des Überlebens sind zu aller erst die familiäre Solidarität, dann kommt die nachbarschaftliche Solidarität, dann kommt der Schwarzmarkt. Irgendwo in diesem Land gibt es ja Benzin, Mehl und Medikamente – nur eben versteckt. Wir sind von der Gnade der Monopolisten abhängig. In diese Situation haben uns die Institutionen dieses gescheiterten Staats gebracht!“

Sarj, Beeka-Ebene

Wir fragen Sarj nach seiner Analyse. Wie ist der Libanon in diese Situation gekommen?

1 Jahr nach der Hafen-Explosion: Die Katastrophe ist noch nicht vorbei!

„Dieser Staat wurde nur für den Kapitalismus geschaffen. Diese Grenzen wurden uns aufgedrückt, damit die Kapitalisten des Nahen Ostens ihr Kapital hier bei uns organisieren können. Wir wurden mit Krediten überhäuft und dann konnten wir die Kredite nicht mehr tilgen. Statt das Geld in Infrastruktur und wirtschaftlichen Aufbau zu stecken, wird es verteilt auf die Zu’ama (lib. für „Anführer“) und ihre Freunde und all jene, die ein gutes Verhältnis zu jenen an der Macht haben. Mit meinen 35 Jahren kann ich diese Situation nicht anders bezeichnen sehen als als Diebstahl. Die an der Macht interessiert das nicht. Die wollen einfach nur alles durchprivatisieren und verkaufen, was verkaufbar ist!“

Ali engagiert sich bei unserem Partnerprojekt „Syrian Eyes“. Als Netzwerk von Freiwilligen organisieren sie Hilfe, Medikamente, Lebensmittel und Heizstoffe, für die Bedürftigsten der Gesellschaft. Oft sind das Flüchtlinge aus Syrien, aber immer häufiger sind auch Libanes*innen in Not. „Initiativen wie unsere können diese riesige, komplizierte Krise nicht allein bewältigen. Wir helfen den Menschen, über die Runden zu kommen, bis sie wieder genug Kraft haben, um auf die Straße zu gehen. Denn eigentlich braucht es größere soziale und politische Veränderungen.“

Die Flamme der Bewegung ist erschöpft, aber sie brennt noch.
Sarj

Sarj stimmt zu: „Die Flamme der Bewegung ist erschöpft, aber sie brennt noch.“ Hoffnung sieht er vor allem in den vielen neuen Initiativen und Beispielen von gelebter Solidarität. „Das sind kleine Gruppen, die sich bei ganz simplen Dingen koordinieren: Beim Versuch, Medikamente aufzutreiben; wer Brot hat, der teilt es; die Bauern geben einen Teil ihrer Ernte ab. Hochgerechnet auf das ganze Land sind es zwar nur kleine Dinge. Aber es ist wirklisch schön und ermutigend zu sehen, wie sich die Menschen gegenseitig unterstützen.“

Auch in der aktuellen Krise organisieren unsere Partner*innen von Syrian Eyes Nothilfe. Dabei ist den Aktivist*innen wichtig, all diese Aufgaben ehrenamtlich zu übernehmen. Die spontane, unbürokratische Unterstützung ist Kern ihrer Arbeit. Spende jetzt für Lebensmittel- und Hygienepakete im Libanon!