Der Ausgang der anstehend Türkeiwahlen hat mittel- und unmittelbare Auswirkungen auf die Lebensrealität der Syrer*innen in der Türkei und Nordsyrien. Wir wollten deshalb von unseren Partner*innen wissen, welche Hoffnungen und Ängste sie mit der Wahl verbinden. Hier sind ihre Antworten:
“Bei fairen Wahlen bekommt Erdoğan die Quittung und uns wird es besser gehen”
Die Wahlen in der Türkei sind hier überall Gesprächsthema Nummer 1. Alle haben Angst vor einem Wahlsieg Erdoğans. Deshalb hoffen wir auf faire und echte Wahlen. Denn dann wird sich zeigen, dass Erdoğan zwar viele Anhänger*innen hat, aber die Zahl der Unzufriedenen mittlerweile überwiegt. Wenn Erdoğan aber doch gewinnen sollte, wird sich unsere Situation hier im Nordosten Syriens immer weiter verschlechtern. Wir hoffen deshalb auf einen Regierungswechsel und sind wirklich sehr gespannt, aber auch angespannt, wenn wir an Sonntag denken.
Diyar, Qamishli, Nordost-Syrien
„Nichts ist schlimmer als Erdoğan”
Von Berufs wegen bin ich täglich mit vielen Menschen in Kontakt. Die Mehrheit ist sich einig: Egal, was die Alternative zu Erdoğan ist, sie kann nicht schlimmer sein. Das ist auch meine Haltung. Wir Syrer*innen haben einfach nichts Positives unter seiner Regierung erlebt. Und ich bin noch am wenigsten von seinen Aggressionen betroffen, weil ich weder aus Afrin oder Kobanê bin, noch als Geflüchteter in der Türkei lebe.
Wenn Erdoğan die Wahl gewinnt, können wir auf keinerlei Verbesserungen hoffen, nur darauf, dass es nicht noch schlimmer wird. Aber da machen wir uns keinerlei Illusion. Wir sind uns sicher, dass Erdoğan die Bodenoffensive gegen den syrischen Nordosten nur aufgeschoben hat, statt aufgehoben. Nach der Wahl wird sie kommen. Unsere Hoffnung liegt deshalb klar auf einem Regierungswechsel.
Huzifa, Raqqa, Nordost-Syrien
„Für uns ist die Wahl vergleichbar mit einem tödlichen Krebsgeschwür”
Die Frage, auf welchen Wahlausgang ich hoffe, ist schwierig. Ich habe eine Tendenz, aber keine klare Antwort. Bei uns geht es jeden Tag aufs Neue ums Überleben. Wir schauen nicht in die ferne Zukunft, das ist ein Luxus, den wir uns in unserer Situation nicht leisten können. Das gilt auch insbesondere für die Syrer*innen in der Türkei. Ihre Lebensrealität ist desaströs und das ist schon arg verharmlosend. Und daran ist natürlich die derzeitige türkische Regierung Schuld. Die Opposition denkt aber gar nicht daran, die Situation für syrische Geflüchtete zu verbessern. Sie ist mit ihrem Rassismus und Hetze gegen Geflüchtete noch schlimmer als Erdoğan – das muss man erstmal schaffen. Sie bauen ihren gesamten Wahlkampf darauf auf. Ihr Schwerpunkt ist die Rückkehr der Syrer*innen – und das um jeden Preis.
Auch Erdoğan schiebt bereits jetzt syrische Geflüchtete illegal ab. Menschen im Grenzgebiet werden gefoltert. Das ist bereits grausame Realität. Und trotzdem könnte es mit der Opposition noch schlimmer kommen. Auch wenn natürlich klar ist, dass die Opposition nicht direkt einen Deal mit Assad einfädeln oder Geflüchtete am nächsten Tag abschieben kann. Für uns ist die Wahl vergleichbar mit einem tödlichen Krebsgeschwür. Man weiß, man wird sowieso sterben, aber man versucht noch ein, zwei Tage länger zu überleben. Deshalb muss ich auf Erdoğan hoffen. Auch wenn uns das nicht rettet, sondern nur einen kleinen Aufschub gibt.
Osman, Azaz (Aleppo), Nordwest-Syrien
“Die Opposition will uns Syrer*innen ausliefern”
Die Wahlen betreffen uns in der Türkei lebenden Syrer*innen unmittelbar. Das gilt aber auch für den Wahlkampf, in dem wir Syrer*innen von allen politischen Parteien missbraucht und dehumanisiert werden. Besonders die Opposition trägt ihren Wahlkampf auf dem Rücken von uns Geflüchteten aus, aber auch die Regierungspartei rührt kräftig die Trommel gegen uns. Der Einfluss der Wahl auf unser Leben ist also schon enorm und wird je nach Ausgang noch größer. Deshalb verfolgen wir die Wahlen gespannt und voller Angst.
Voller Angst vor einem Wahlsieg der Opposition. Und danach sieht es derzeit leider aus. Selbst wenn sich Erdoğan doch an der Macht hält: Unser Leben hier ist auch unter ihm alles andere als leicht. Wir erleben Rassismus und Hass jeden einzelnen Tag – und zwar von der Politik, den Behörden, der Gesellschaft. Wegen der rassistischen Hetze, den Übergriffen und Drohungen versuchen derzeit wieder sehr viele Syrer*innen einen Weg Richtung Europa zu finden. Denn mittlerweile geht es nicht mehr nur um eine schlechte Lebenssituation und Instabilität – wir haben hier zunehmend Angst um unser Leben und vor einer Abschiebung nach Syrien.
Sara, syrische Aktivistin in der Türkei
Denn die Opposition sagt klipp und klar, dass sie uns innerhalb der kommenden zwei Jahre zurück nach Syrien schicken und die diplomatischen Beziehungen mit dem Assad-Regime wiederherstellen wird. Deshalb sind wir gegen die Opposition. Ich denke, die meisten eingebürgerten Syrer*innen werden die AKP wählen. Denn sie ist trotz allem unser größerer Sicherheitsgarant, auch wenn das hart ist zu sagen.angesichts der Diskriminierung die wir auch schon jetzt unter der Regierung Erdoğans erleben.
“Wir werden die Leidtragenden der Wahl sein – so oder so”
Im Hinblick auf die Wahlen haben wir zwei Schreckensszenarien: Zum einen die Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und dem Regime, zum anderen die Abschiebung der syrischen Geflüchteten nach Syrien. Die öffentlichen Statements der beiden Wahllager sind eindeutig und versetzen uns gleichermaßen in Angst. Erdogan hat die Normalisierung mit dem Regime bereits eingeleitet, die Opposition hat das gleiche Bestreben. Erdogan will mindestens eine Million Syrer*innen abschieben, die Opposition fabuliert von mehreren Millionen. Generell nach Nordsyrien abzuschieben, ist irrational und ignoriert die Realität hier vor Ort, die desaströse humanitäre Situation. Oder werden sie direkt dem Regime übergeben?
Die Aussagen der Regierungspartei und der Opposition versetzen uns deswegen gleichermaßen in Angst und wir sind sehr angespannt. Für uns ist es nahezu unerheblich, wer gewinnt, denn klar ist, dass der Nordwesten Syriens vor großen Umbrüchen steht. Wir werden die Leidtragenden sein – so oder so.
Aida, Afrin, Nordwest-Syrien
„Wir sind gezwungen auf Erdoğan zu hoffen, aber das schmerzt mich sehr!“
Ich schaue mit Sorge auf die bevorstehenden Wahlen in der Türkei, weil sie sehr schlimme Auswirkungen auf das Leben von uns Syrer*innen haben kann. Machen wir uns nichts vor: Niemand wird uns helfen, egal wie gravierend es wird. Von den westlichen Staaten können wir nichts erwarten. Wir sind deshalb gezwungen darauf zu hoffen, dass Erdoğan gewinnt, weil er – so paradox das klingt – die größte Sicherheitsgarantie für die Syrer*innen in der Türkei darstellt. Es ist für mich selbst ein großer innerer Konflikt auf ihn zu hoffen, während ich selbst eine Revolution für ein demokratisches Syrien mit angezettelt habe. Es schmerzt mich sehr.
Natürlich ist die Situation der in der Türkei lebenden Syrer*innen bereits jetzt dramatisch und es gibt nichts Gutes über Erdoğan zu sagen. Aber wir wissen auch: Es geht immer noch schlimmer. Nicht falsch verstehen: Uns allen hier ist klar, dass die Türkei unter Erdoğan kein demokratischer Staat, dafür aber eine Besatzungsmacht in Syrien ist. Erdogan ist kein Heilsbringer, unsere Angst vor der Opposition ist aber größer. Das hat vor allem mit dem ungewissen Schicksal der Syrer*innen in der Türkei zu tun. Zwar haben beide Seiten uns Syrer*innen im Wahlkampf instrumentalisiert und Hetzkampagnen gegen uns betrieben. Aber die Opposition hat sehr deutlich gemacht, dass sie uns so schnell wie möglich loswerden, mit Assad kooperieren und uns keinesfalls helfen will.
Deshalb treiben uns derzeit am meisten die eventuell bevorstehenden Abschiebungen der knapp vier Millionen Syrer*innen aus der Türkei um. Das ist ein Schreckensszenario, das gerade jetzt im Kontext der Abschiebungen aus dem Libanon noch einmal greifbarer geworden ist. Nordsyrien hat weder die Kapazitäten, noch die Infrastruktur, um die Syrer*innen aus der Türkei aufzunehmen – sie müssen dann zwangsläufig in Regime-Gebiete. Wir sind uns sicher, dass die Opposition, sobald sie an der Macht ist, keine Zeit verlieren wird, um möglichst viele syrische Geflüchtete zwangsabzuschieben.
Huda, Idlib, Nordwest-Syrien
“Niemand wird sich für uns einsetzen”
Die Wahlen werden grundsätzlich große Auswirkungen auf Nordsyrien und auf die Syrer*innen in der Türkei haben. Wir wissen nur nicht welche und das belastet uns psychisch sehr, weil wir extreme Angst haben. Die Fragen, was mit uns nach der Wahl passieren und wie schlimm es wirklich wird, sind omnipräsent. Wir wissen nicht, ob sich unsere Situation verbessern oder verschlechtern wird. Wird die Türkei vielleicht den Nordwesten wieder Assad überlassen, wenn sich beide annähern? Wird es dann einen neuen offenen Krieg zwischen der syrischen Opposition und Assad geben? Werden die geflüchteten Syrer*innen aus der Türkei zu uns abgeschoben und wie soll das gehen mit unseren Kapazitäten und Ressourcen hier? Oder werden sie direkt Assad übergeben und damit ihr sicherer Tod besiegelt? Wir wissen es nicht. Wir sind verdammt auf das Beste zu hoffen und zu warten. Leider ist unser Schicksal unweigerlich mit den Wahlen in der Türkei verbunden. Und uns allen ist auch klar: Niemand wird sich für uns einsetzen, alle Parteien verfolgen nur ihre eigenen machtpolitischen Interessen.
Nasim, Afrin, Nordwesten
„Wir sehen eine große existenzielle Krise auf uns zukommen”
Die Wahlen sind für alle Menschen hier in Syrien extrem wichtig – und extrem besorgniserregend. Wir sind hier absolut nicht mit Erdoğans Politik einverstanden, aber er droht wenigstens nicht mit der Vertreibung aller Syrer*innen aus der Türkei. Der Oppositionskandidat sagt deutlich, dass er die Syrer*innen aus der Türkei rausschmeißen will – komme, was wolle. Erdoğan schiebt zwar auch unter dem Deckmantel “freiwillige Rückkehr” ab, aber er phantasiert nicht offen von vier Millionen. Und wenn die Syrer*innen tatsächlich in dieser Größenordnung aus der Türkei hier in den Nordwesten abgeschoben werden, dann wird das zu einer existentiellen Krise für uns alle führen. Deswegen haben wir hier so große Angst vor einem Sieg der Opposition.
Ganz besonders kritisch sind der Wahlausgang und seine Folgen für diejenigen, die aus politischen Gründen vor den bewaffneten Milizen hier, sei es HTS oder die türkisch finanzierten Milizen, in die Türkei geflohen sind. Diese Aktivist*innen stehen seit Jahren auf deren Abschusslisten. Eine Abschiebung hierher wäre für sie genauso schlimm wie eine Abschiebung in die Regime-Gebiete – so wie sie gerade im Libanon passieren. Sie werden dann den Machthabern ausgeliefert, die sie suchen und bestrafen werden.
Souad, Salqin (Idlib), Nordwest-Syrien