Du schreibst viel über das schwierige Verhältnis der westlichen Linken zum syrischen Aufstand und kritisierst insbesondere die verbreitete Wahrnehmung, dass Assad das „kleinere Übel“ in Syrien sei. Warum?
Zuerst muss man feststellen, dass es nicht nur um Teile der westlichen Linken geht. Ähnliche Probleme sind auch in der Linken im Nahen Osten und Nordafrika verbreitet, die aus unterschiedlichsten Gründen mit dem Assad-Regime sympathisieren – sei es, weil sie das Regime als Teil des antiisraelischen „Widerstands“ sehen oder allgemein als eine antiimperialistische Macht, die sich mit einer ausländischen Verschwörung konfrontiert sieht. Diese Fraktionen der Linken gehen von einer falschen Analyse der Natur des syrischen Regimes aus oder glauben, dass es möglich sei hunderttausende Menschen im Rahmen einer ausländischen Verschwörung zu bewegen, was einfach falsch ist. Das sind einige meiner Kritikpunkte an jenen Linken, die sich auf die Seiten eines autoritären Regimes geschlagen haben. Ich denke, dass wir als Linke auf der Seite jener Menschen stehen müssen, die für Befreiung und Emanzipation eintreten.
Wer hingegen an das Assad-Regime als das „kleinere Übel“ glaubt, der versteht nicht, dass es selbst eine Grundursache für das Erstarken islamisch-fundamentalistischer Kräfte in Syrien ist. Das Assad-Regime ist nicht der einzige Grund, doch die autoritären Regime der Region haben durch ihre Politik die Grundlagen für den Erfolg dieser dschihadistischen und extremistischen Gruppen geschaffen: Die Abwesenheit von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Keinerlei politische Freiheiten existierten in diesen Gesellschaften während neoliberale Politik weite Teile der Bevölkerung verarmen ließe. All dies geschah – und geschieht noch immer – während man jeden demokratischen und sozialen Widerstand zerschlägt. Es ist absurd, dass einige seit sechs Jahren darüber klagen, dass sie keine Alternative zum Assad-Regime sehen würden, dabei aber derealisieren, dass wir hier über eine Diktatur reden, die weite Teile des demokratischen und progressiven Widerstands seit über vier Jahrzehnten tötet und verfolgt.
Das bedeutet im Übrigen keineswegs, die imperialistischen Interventionen internationaler und regionaler Mächte und den zunehmenden, durch verschiedene autoritäre Regime geschürten Konfessionalismus aus dem Blick zu verlieren. Die Linke muss aber all diese Aspekte in ihre Analyse einbeziehen.
Es ist ja nicht nur Syrien – wie kommt es, dass Teile der Linken sich in Sachen des Nahen Ostens und Nordafrikas immer wieder an der Seite von autoritären Regimen wiederfinden? Ist es ihr eigener Autoritarismus? Liegt es daran, dass sie den universalistischen Gedanken verloren haben?
Ich denke, es gibt viele Gründe dafür und du hast einige genannt. Insbesondere im Nahen Osten und Nordafrika ist das stalinistische Erbe der Linken noch immer stark, ebenso wie in einigen Teilen der Linken Europas, sodass das Thema Demokratie schlicht keine wichtige Rolle spielt. Auch reduziert sich das Verständnis von Imperialismus häufig auf nur ein, zwei Akteure: Die Vereinigten Staaten und ihre westlichen Alliierten. Sie begreifen ein globales System nicht, in dem diverse kapitalistische Akteure einander bekämpfen und manchmal auch miteinander kooperieren – und so sehen sie etwa Putins Russland nicht als kapitalistische imperialistische Nation.
Viele der Probleme sind auch ein Resultat der weltweiten Schwäche der Linken. Wir erleben harte Zeiten, in denen sich die Linke eigentlich als Akteur wiedererfinden müsste, der mit internationalistischer Perspektive für demokratische und soziale Fragen eintritt und erkennt, dass unser aller Schicksal verbunden ist. Das ist mir sehr wichtig und ich denke noch immer, dass Wandel von unten, nicht von oben kommt.
Das ist etwas, worüber du viel schreibst: Progressive Kräfte international zu vernetzen. Wie könnte ein fortschrittlicher und internationalistischer Ansatz für Syrien aussehen?
Die bereits erwähnte Schwäche der Linken ist ein großes Problem. Wenn es der Linken oft noch nicht einmal möglich ist, sich lokal zu organisieren, wie soll das dann über Grenzen hinweg funktionieren? Das ist das erste Hindernis.
Aber fangen wir mit Europa an. Wir müssen einander mit fortschrittlichen und sozialistischen Kräften vernetzen, die unsere Vision einer Gesellschaft teilen, müssen mehr kooperieren und gemeinsame Kampagnen inszenieren. Wir müssen über die sozialen und demokratischen Kämpfe reden, die im Nahen Osten ausgetragen werden. Arbeitskämpfe, der Kampf für Frauenrechte und gegen Konfessionalismus und Rassismus – all das passiert, aber wir müssen es stärker thematisieren, damit diese Menschen mehr gesehen werden. Und wir müssen von ihren Erfahrungen lernen. Auf der anderen Seite gilt es die Kämpfe hierzulande zu führen, gegen Rassismus, der diese Leute direkt betrifft, imperialistische Politik, die Reduzierung von Freiheitsrechten, Austeritätspolitik und so weiter.
Syriens progressive Kräfte sind – und auch du konstatierst das – zwischen verschiedenen Formen des Autoritarismus gefangen. Sei es Assad, der Iran, Milizen wie ISIS, die Nusra-Front oder Jaysh al-Islam. Siehst du einen Ausweg aus dieser Situation, der keiner dieser autoritären Kräfte in die Hände spielt?
Heute wenden sich viele gegen die ursprünglichen Ziele der syrischen Revolution, aber wir sollten auch festhalten, dass nicht alle Fraktionen auf derselben Ebene stehen. Einige Kräfte sind weitaus mächtiger und haben weit mehr für die Zerschlagung des Aufstandes getan als andere. Nichtsdestotrotz macht das die anderen nicht weniger kontrarevolutionär. Ja, wir stehen vielen Feinden gegenüber.
Das Wichtigste ist jetzt, dass der Krieg in Syrien endet. Die Fortführung der bewaffneten Auseinandersetzung nutzt nur den autoritären Kräften auf beiden Seiten. Erinnere nur, dass wann immer der Konflikt etwas abkühlte, die demokratischen und zivilen Kräfte wieder in den Vordergrund rückten. Wir müssen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Die große Stärke der Revolution von 2011 ist, dass alles dokumentiert ist. In Relation dazu die Kämpfe der 70er und 80er Jahre: Auch damals gab es Streiks, Widerstand gegen das Regime, doch mit Ausnahme einer kleinen Zahl Linken und Demokraten hat man diesen Teil der Geschichte weitgehend vergessen. Dass heute alles dokumentiert ist, ist eine Stärke, auf der wir aufbauen und uns reorganisieren können.
Wie?
Das ist eine andere Frage, weil es einen internationalen Konsens gibt, das Assad-Regime – oder zumindest seine Hauptstrukturen – an der Macht zu belassen und sich auf den so genannten Krieg gegen den Terror zu konzentrieren. Doch wenn der Krieg aufhört, werden die enormen Widersprüche im Inneren des syrischen Regimes explodieren: Die sozio-ökonomischen Zwiespalte, die Frage der Milizen, der Einfluss Russlands und des Irans.
Die Politik muss verstehen, dass diejenigen Bedingungen, die den Aufständen von 2011 zugrunde lagen, fortbestehen: Keine Demokratie, keine soziale Gerechtigkeit, keine Selbstbestimmung der Bevölkerung. Deshalb haben wir Proteste im Libanon und dem Irak 2015 und 2016 gesehen, deshalb sehen wir heute Proteste in Marokko und Streiks sowie andere Formen des Widerspruchs in Ägypten.
Wie konnte die Radikalisierung in Syrien während der letzten Jahre so rasch fortschreiten?
Viele Gründe kamen zusammen. Erstens: Die Unterdrückung durch das Regime, sektiererische Massaker in bestimmten Gebieten mit gemischter Bevölkerung, Angriffe auf verarmte sunnitische Stadtteile durch alawitische Milizen. Von Anfang an setzte das Assad-Regime auf eine Konfessionalisierung des Konflikts. Das Regime spielte diese Karte sehr früh aus, um die Bevölkerung zu spalten. Man nehme nur die Freilassung der Dschihadisten aus den Gefängnissen zu Beginn des Aufstandes. Solche Radikalen haben sie gedeihen lassen, während sie die Demokraten zu vernichten versuchten.
Zweitens: Die Interventionen des Irans, der Türkei, Katars und Saudi-Arabiens. Länder, die die sektiererischsten und fundamentalistischsten Milizen unterstützen und die Spannungen so weiter verstärkten. Man denke nur an die Rhetorik der Vertreter und Medien des Golf-Kooperationsrats; sie sprachen nicht von einer Revolution gegen ein autoritäres Regime, sondern von einer sunnitischen Revolution gegen die Schiiten, beziehungsweise den Iran.
Und schließlich drittens: Der Mangel an Unterstützung für die demokratischen Akteure.
Diese geraten immer mehr ins Hintertreffen. Der diplomatische Prozess fokussiert sich heute hauptsächlich auf die militärischen Fraktionen.
Ob der Nationalrat oder die Nationale Koalition: die politische Opposition war immer schwach. Ihre Vertreter kümmerten sich viel zu sehr um die Interessen ihrer ausländischen Geldgeber wie Katar oder die Türkei. Und wenn wir von Diplomatie reden, so muss man festhalten, dass Russland, der Iran und die Hizbollah von Anfang an klargemacht haben, dass der Sturz Assads für sie – aus verschiedenen Gründen – eine rote Linie darstellt. Auf der anderen Seite favorisierten viele ausländische Financiers anfänglich einen Deal zwischen Assad und der Muslimbruderschaft oder welcher ihnen nahestehenden Fraktion auch immer. Eine solche Einheitsregierung aber war ob der Natur des syrischen Regimes, das einen patrimonialen Staat aufgebaut hatte, nahezu unmöglich. So konnte Assad frei agieren wie er wollte, unter dem Schutz seiner Alliierten und angesichts der mit Ausnahme großer rhetorischer Verurteilungen weitgehend untätigen westlichen Mächte.
Wichtig ist festzuhalten, dass weder die Golf-Regime noch die Türkei die Ziele der Revolution unterstützten. Im Gegenteil sahen sie sie als Bedrohung. Sie wollten kein demokratisches Syrien sehen, weil sie ähnliche Bewegungen in ihren Ländern befürchteten. Entsprechend ging es den Golfstaaten darum, den Volksaufstand in einen konfessionellen Krieg zu transformieren, und der Türkei ging es vor allem darum, die eigenen Interessen zu schützen. Zuvorderst: Ein weiteres autonomes Kurdistan an seiner Grenze zu verhindern.
Betrachtet man aber die zivile Bewegung innerhalb Syriens, so existierte die demokratische Alternative. Man muss nur sehen, was die Lokalen Koordinationskomitees (LCC) und Lokalen Räte erreicht haben. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die Kämpfe von unten weiterhin stattfinden: Demokratische Bestrebungen existieren weiterhin, man nehme etwa die lokalen Widerstände gegen die Herrschaft und das Agieren von Gruppen wie Jaysh al-Islam, Jabhat al-Nusra oder Ahrar al-Sham. Doch wie gesagt, damit sich die demokratischen Kräfte reorganisieren und effektiv handeln können, muss der Krieg ein Ende nehmen.
Wer vom Konfessionalismus spricht, muss auch über die Hizbollah reden – die erste ausländische Macht, die in Syrien offen mit eigenen Kampfverbänden intervenierte. Du hast jüngst ein Buch über sie geschrieben. Wie siehst du ihre Rolle in Syrien?
Der Hizbollah ging es primär um die Verteidigung der Achse Teheran-Damaskus-Beirut, denn diese garantiert ihre Bewaffnung und ein relatives Kräftegleichgewicht in der Region. Man muss zudem bedenken, dass ihr Verhältnis zu Syrien eine wichtige Entwicklung mit Bashar al-Assads Amtsantritt erlebte. Sein Vater Hafez nutze die Hizbollah als taktisches Instrument in seinen Verhandlungen mit Israel. Stand es schlecht um diese, so drängte er die Hizbollah zu mehr Angriffen, limitierte aber die Waffen, die sie erreichten. Bashar ging eine strategische Beziehung mit ihnen ein, öffnete die Grenzen für alles was die Hizbollah wollte.
Du schreibst auch, dass die Hizbollah heute vor allem den Interessen eines Teils der libanesisch-schiitischen Bourgeoisie dient. Was haben westliche Linke nicht verstanden, die die Hizbollah wie Jeremy Corbyn „Freunde“ nennen, oder sie wie Judith Butler als „soziale progressive Bewegung, die Teil der Linken ist“ klassifizieren [beide haben sich mittlerweile von ihren Aussagen distanziert]?
Eines der analytischen Probleme mancher Linker ist, dass Widerstand gegen die USA oder Israel einen Akteur nicht progressiv oder links macht. Man analysiert eine Partei indem man ihr politisches Programm ansieht, ihre sozialen Wurzeln, ihre Kader. Und gemessen daran ist die Hizbollah eine fundamentalistische religiöse Organisation mit reaktionärer Haltung zu gesellschaftlichen Fragen wie Frauenrechten, die eine neoliberale Politik unterstützt. Die Hizbollah ist zu einem Hauptakteur im bourgeoisen sektiererischen politischen System des Libanons geworden und geht – wie die anderen Akteure – gegen jeden vor, der in Opposition zu diesem System steht.
Wie steht es um den Widerstand gegen die Hizbollah?
2011 sahen wir eine Bewegung im Libanon, die sich auf den Straßen gegen das konfessionalistische politische System wandte und alle Parteien – auch die Hizbollah – herausforderte. Leider verschwand diese Bewegung nach sechs, sieben Monaten. 2015 aber erneuerten die Teilnehmer der YouStink-Proteste diese Kritik und brachten Zehntausende auf die Straßen Beiruts. Innerhalb der schiitischen Gemeinde ist es sehr schwierig, Opposition zur Hizbollah zu äußern, weil sie jene verfolgt, die das tun. Eine Gruppe liberaler Schiiten, die sich gegen die Hizbollah wandte, wurde etwa das Ziel einer Schmierenkampagne, die sie als „Schiiten der amerikanischen Botschaft“ diffamierte. Vor allem aber gibt es einen Mangel an progressiven demokratischen Alternativen. Es ist also schwierig sich zu organisieren, doch es passiert. Die anti-sektiererische Beirut-Madinati-Bewegung (Beirut Meine Stadt) etwa hat bei den letzten Lokalwahlen gute Ergebnisse errungen.
Interview: Jan-Niklas Kniewel