Triumphierende HTS-Kämpfer treten die Flagge der Revolution mit Füßen.

Dschihadisten auf dem Vormarsch

Im Norden Syriens nimmt die aus al-Qaida hervorgegangene Miliz Hai’at Tahrir al-Sham derzeit zahlreiche Orte ein. Schon am Sonntag traf es die syrische Kleinstadt Atareb. Der Fall der Stadt steht exemplarisch für die Komplexität lokaler Dynamiken, die Rolle der Zivilbevölkerung und für das Versagen des westlichen Anti-Terror-Kampfs.

Triumphierende HTS-Kämpfer treten die Flagge der Revolution mit Füßen.

Für die meisten LeserInnen dürfte die folgende Neuigkeit auf den ersten Blick ungefähr so spannend klingen wie die Nachricht vom berühmten umgefallenen Sack Reis in China: Die syrische Kleinstadt Atareb wurde von der Miliz Hai’at Tahrir al-Sham (HTS) eingenommen. Welche Relevanz hat schon eine kleine syrische Stadt mit ein paar tausend Einwohner? Und was hat das Schicksal dieser Menschen schon mit uns zu tun?

Für uns ist der Fall der Stadt Atareb an die Dschihadisten der HTS sehr relevant, weil wir dort ProjektpartnerInnen haben, die nun nicht wissen, unter welchen Umständen sie ihre Arbeit wieder aufnehmen können, ohne von den Bewaffneten verfolgt zu werden – weshalb wir an dieser Stelle von ihnen nichts weiter berichten wollen, ohne zunächst ein paar Sicherheitsfragen zu klären.

Paradebeispiel für die Bedeutung der Zivilgesellschaft

Aber nicht nur für uns ist der Fall relevant: Atareb ist ein Paradebeispiel für die Bedeutung der Zivilbevölkerung für lokale Konfliktdynamiken, ein Beispiel dafür, was Extremismus befördert und bekämpft. Aber der Reihe nach:

Atareb liegt etwa 30 Kilometer westlich von Aleppo. Als Transportdrehscheibe ist der Ort von relativer Bedeutung für den Nordwesten Syriens. Eine bescheidene Bekanntheit zumindest unter mit Syrien befassten Menschen erlangte Atareb aber, weil sich die Stadt immer wieder erfolgreich Dschihadisten entgegenstellte. Damit ist sie keineswegs allein. Es gibt viele Städte, die vom Extremismus weitgehend unberührt blieben oder ihn bekämpften. Allein in Nachbarschaft Atarebs etwa die Städtchen Saraqib, Kafranbel und Maarat al-Nu’man – auch diesen Orten droht eine Übernahme durch HTS. In allen vier Städten gingen Menschen immer wieder gegen die Extremisten auf die Straße — so gab es etwa gemeinsame Demonstrationen unter dem Motto „Kein Platz für al-Qaida in Syrien“.

Das Beispiel Atareb illustriert die Geschichte der jungen syrischen Zivilgesellschaft besonders deutlich, wie sie im ganzen Land nach 2011 entstanden ist. 2012 hatten Rebellen die Kontrolle über die Stadt übernommen. Es folgte wie immer das willkürliche Bombardement durch die syrische Armee. Aber Atareb organisiert sich fortan selbst, um die staatlichen Institutionen zu ersetzen. Es entstand eine Art Selbstverwaltung und eine lebendige Zivilgesellschaft, deren Existenz von den AnhängerInnen des Assad-Regimes stets geleugnet wird – für die Regime-Propaganda ist es essentiell, jede Opposition zu diffamieren und als terroristisch darzustellen.

Im November 2017 tötete ein Luftangriff der syrisch-russischen Allianz auf den Markt von Atareb mehr als 60 Menschen, die meisten von ihnen ZivilistInnen.

Dschihadisten vor den Toren der Stadt

Wie in viele Städte sickert ab 2013 auch in Atareb subtil der »Islamische Staat« ein. Weil internationale Unterstützung weitgehend ausblieb, bleibt die neue Verwaltung der Stadt schwach. Das eröffnete den Dschihadisten die Möglichkeit, sich mit eigenen öffentlichen Dienstleistungen als effizientere und bessere Regierung zu gerieren. So oder so ähnlich läuft es in dieser Phase in zahllosen syrischen Orten.

In Atareb inszenierte sich etwa ein IS-Gericht als Garant für die lokale Sicherheit: Erbarmunglos machte es kurzen Prozess mit Verdächtigen, egal ob schuldig oder nicht, und inszenierte sich so als effizienter als die lokale Justiz. Währenddessen verfolgte, entführte und tötete die Gruppe ihre Gegner. Doch als der IS versucht, die Kontrolle über die ganze Stadt zu übernehmen, organisiert die Bevölkerung Widerstand: Zivile Aktivisten protestieren gegen den IS und drängen die bislang vorherrschenden bewaffneten Gruppen, die dem IS gegenüber zurückhaltenden agierten, ihren Aufstand gegen die Dschihadisten militärisch zu unterstützen. Schließlich muss der IS abziehen.

Später wird die Stadt bedroht vom syrischen al-Qaida-Ableger Jabhat al-Nusra, aus dem das heutige Milizenbündnis HTS hervorging. Regelmäßig demonstriert die Bevölkerung Atarebs gegen die Dschihadisten und übt zivilen Ungehorsam. Insbesondere gegen den Einzug der Extremisten in die örtlichen Gerichte protestiert die Bevölkerung. Auch ein zweiter Versuch der Dschihadisten, die Stadt einzunehmen, scheitert 2015 am Widerstand der Bevölkerung: Die Nusra-Front zieht sich in ein Quartier mehrere Kilometer vor der Stadt zurück. „Die Proteste gegen IS und al-Nusra unterschieden sich kaum von denen, die wir damals gegen das Regime gemacht haben. Nur waren sie stärker und heftiger, weil die Blockade der Angst, die uns früher im Nacken saß, inzwischen durchbrochen war“, erinnert sich ein Aktivist.

Protest gegen Dschihadisten in Atareb, 2017

Wer kontrolliert die Bäckerei?

Auch die Nusra-Front versucht sich mit öffentliche Dienstleistungen die Unterstützung der Bevölkerung in Atareb zu sichern. Doch aufgrund ihrer Erfahrung mit dem IS wissen die Aktivisten, dass sie die lokalen Institutionen verbessern müssen, damit kein Vakuum entstehen kann, in das die Nusra-Front dringen könnte. Als etwa die örtliche Bäckerei Anfang 2017 in finanzielle Not gerät, versucht die Nusra-Front sofort, sie zu übernehmen. Es gibt erneut Proteste, auf Plakaten ist zu lesen: „Atareb ist eine befreite Stadt unter ziviler Verwaltung, die vom Lokalen Rat repräsentiert wird, der vom Volk gewählt wurde“. Auf einem anderen steht: „Der Ofen von Atareb ist Eigentum des Volkes“. Aktivisten gelingt es schließlich anderweitig Geld aufzutreiben, um die Produktion auch ohne die Nusra-Front aufrechterhalten zu können. Vor dem Hintergrund solcher Beispiele plädiert der Politologe Haid Haid immer wieder dafür, Extremismus durch internationale Unterstützung für lokale zivile Verwaltungen zurückzudrängen.

Doch den IS und Nusra vertreiben konnten die ZivilistInnen nie allein: Dies gelang nur in Kooperation mit den lokal vorherrschenden bewaffneten Gruppen. Wenn sich ziviler Aktivismus unmittelbar Waffengewalt ausgesetzt sieht, bleibt den ZivilistInnen oft nur ein Zweckbündnis mit Bewaffneten. Bei diesen Milizen handelt es sich nie um unproblematische Akteure, sondern um Gruppen, die selbst Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen begehen. Im Gegensatz zu den extremistischen Milizen der Nusra-Front bzw. HTS oder dem IS zielen sie jedoch nicht auf die vollständige politische Kontrolle der Gesellschaft. Für die Menschen vor Ort macht das einen großen Unterschied. „Die Aufgabe der bewaffneten Fraktionen beschränkt sich lediglich darauf die Stadt an ihren Grenzen zu beschützen. Es ist nicht ihr Job, das Gebiet zu regieren“, erklärte einmal ein Aktivist das Arrangement in Atareb.

Ziviler Widerstand ohne Unterstützung

Bis zuletzt kämpften die Menschen von Atareb den Antiterrorkampf um ihre Stadt ohne substanzielle Unterstützung, während sie immer wieder vom Assad-Regime und Russland aus der Luft angegriffen wurden. Am Sonntag verloren sie diesen Kampf, als die örtliche Rebellengruppe militärisch kollabierte und HTS kurz davor stand, die Stadt zu überrennen. Mangels ausreichender militärischer Unterstützung blieb der Stadt nichts übrig, als der Miliz die militärische und politische Kontrolle zu übergeben – im Gegenzug erhielten 70 von den Dschihadisten gesuchte Menschen und ihre Familien freies Geleit. Mehr konnten die Verhandlungsführer der Stadt mangels Druckmitteln nicht erreichen.

In der ganzen Region ist HTS auf dem Vormarsch – offenbar auch deshalb, weil ein Teil der von der Türkei unterstützten Milizen für eine mögliche Offensive gegen die kurdische Selbstverwaltung in den Norden beordert wurden. Auf lange Sicht gesehen dürften für das Erstarken von HTS nicht nur geopolitische und militärische Gründe eine Rolle spielen: Hätten in der Region die zivilen Institutionen in der Region in den vergangenen Jahren mehr internationale Unterstützung erhalten, vielleicht wäre die Geschichte Atarebs anders ausgegangen – und die Extremisten hätten sich nicht derart durchgesetzt, wie wir es heute beobachten müssen.

Jan-Niklas Kniewel