Ein Pakt mit Assad? Nordsyrien am Scheideweg

Die kurdisch geprägte Selbstverwaltung Nordsyriens verhandelt mit dem Assad-Regime über die Zukunft der Region. Es gibt viele offene Fragen, nicht wenige Menschen fürchten die Zukunft. Wie es jetzt weitergehen könnte? Eine Analyse.

Ende Juli traf sich erstmals eine Delegation der nordsyrischen Selbstverwaltung offiziell mit Vertretern des syrischen Regimes. Weitere Gesprächsrunden sollen folgen. Das von den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) beziehungsweise den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) kontrollierte Territorium umfasst nach vielen wichtigen Siegen über den “Islamischen Staat” etwa ein Viertel des syrischen Staatsgebiets und reicht bis tief in mehrheitlich von Arabern besiedelte Regionen wie Deir ez-Zor, Raqqa und den Osten der Provinz Aleppo, rund um die Großstadt Manbij. Doch Rojava, wie die Region auch genannte wird, steht am Scheideweg.

Nördlich der Region ist die türkische Grenze, hochgerüstet und unüberwindbar für Menschen und Waren. Östlich von Manbij stehen die türkische Armee und mit ihr verbündete Rebellen und drohen mit der Invasion — der türkische Machthaber Erdoğan sieht die YPG als Terrororganisation. Im Süden beginnt das Herrschaftsgebiet Bashar al-Assads, der die Kurden öffentlich als Verräter beschimpft und die Rückeroberung des gesamten Landes beschwört. Und die USA, die die kurdische Selbstverwaltung bislang unterstützt, zeigt sich wankelmütig. Wie eine belastbare politische Lösung für den Norden Syriens aussehen könnte, ist umstritten. Klar ist nur, dass alles auf ein Abkommen mit dem von Assad geführten Zentralstaat hinausläuft.

Raqqa, Manbij und Öl als Verhandlungsmasse?

Vielen Menschen in Nordsyrien erscheint das Assad-Regime im Vergleich zur Türkei als kleineres Übel — zu nennenswerten Kämpfen zwischen den Regime-Truppen und der YPG kam es dank des klugen Taktierens der Selbstverwaltung kaum. Der Bombenterror der syrischen Luftwaffe blieb den Menschen in Nordsyrien somit erspart.

Der Selbstverwaltung geht es vor allem um die Sicherung des künftigen Status des kurdischen Kernlandes. Zur Disposition wird dann insbesondere die Kontrolle mehrheitlich arabischer Orte wie Manbij und Raqqa sowie der Ölvorkommen im Osten Syriens stehen. Ende 2017 eroberte die SDF das Omar-Ölfeld vom IS, das größte seiner Art in Syrien. Schon vor der Eroberung Raqqas vermuteten nordsyrische Journalisten mit guten PYD-Kontakten, dass es so kommen würde: Ein Deal, der die Kontrolle über diese Städte an Damaskus übergibt und im Gegenzug föderale Rechte und mehr Selbstbestimmung für das kurdische Kernland zulässt. Vertreter des politischen Arms der SDF verkündeten später gar, dass man sich unter Umständen der syrischen Armee anschließen könnte. Dass ein Deal zwischen Assad-Regime und der kurdischen Selbstverwaltung nahezu unausweichlich ist, liegt vor allem an den türkischen Drohungen und dem Einmarsch in Afrin, aber auch daran, dass Assad dank Russland einen Sieg nach dem anderen auf dem Schlachtfeld feiert.

Es ist gut möglich, dass Moskau die eigentliche treiben Kraft hinter den nun begonnen Verhandlungen ist. Bisherige Verfassungsentwürfe des Kremls zeigten sich gar gegenüber einer Föderalisierung Syriens offen, wurden jedoch von der arabischen Opposition ebenso wie vom Regime zurückgewiesen. Ende 2017 lud Russland Sipan Hemo, den Generalkommandanten der YPG, nach Moskau. Auch in Syrien kam es bereits zu Verhandlungen zwischen YPG, Russland und auch dem Regime. So organisierte man Berichten zufolge gemeinsam die Ausbeutung der Ölvorkommen bei Hassakeh. Auch Reparaturarbeiten für den wichtigen Staudamm in Tabqa wurde besprochen.

Doch nicht wenige kurdische AktivistInnen und Intellektuelle warnen, dass Gleichberechtigung in einem vom Assad-Regime kontrollierten Syrien eine naive Vorstellung sei. 40 Jahre lang unterdrückte das Regime die Kurden. Dass das nun plötzlich endet, erscheint vielen illusorisch. Dass der türkische Einmarsch in Afrin mit Billigung Moskaus erfolgte, unterstreicht ebenfalls, dass sich die Selbstverwaltung nicht auf das Wohlwollen Moskaus verlassen kann. Im Falle eines Deals mit dem Regime stellt sich also vor allem die Frage, wie viel Einfluss Assad im Norden bekäme. Die Selbstverwaltung sähe wohl vor allem eine Rückkehr staatlicher Dienstleistungen gerne. Doch wie ginge es weiter? Was wäre die Gegenleistung? Dürfte Assads gefürchteter Sicherheitsapparat zurückkehren? Wie viel Autonomie wird Nordsyrien bewahren können? Die Selbstverwaltung arbeitet auf eine “Dezentralisierung” Syriens hin. Bisher in Damaskus kursierende Gesetzesentwürfe sehen höchstens eine Stärkung der Kommunalverwaltungen vor. Fraglich ist auch, was aus SDF und YPG wird und wie der Militärdienst zukünftig geregelt würde.

Und selbst wenn es den Verhandelnden gelingen würde, diese Fragen zu klären, wäre noch immer unklar, was mit den mehrheitlich arabischen Gebieten Gebieten wie Raqqa oder Manbij geschieht.

Zerstörung in Raqqa, rund 80 Prozent der Stadt sind laut UN unbewohnbar.

Die SDF versprach Selbstbestimmung — und nun?

Das multiethnische, aber kurdisch dominierte Militärbündnis SDF, das von den USA unterstützt wird, musste in diesen Regionen einen Balanceakt bewältigen: Teile der arabischen Bevölkerung sehen die Gruppe als Besatzungsmacht oder Fremdkörper an und beäugen sie mit Skepsis. So halten sich etwa hartnäckig Berichte über ethnische Vertreibungen von AraberInnen durch die SDF – auch wenn die UN-Kommission für die Untersuchung von in Syrien begangenen Kriegsverbrechen konstatierte, dass es hierfür keine stichhaltigen Beweise gebe. Ärger zieht die SDF auch deshalb auf sich sich, weil sie eine Art Wehrpflicht eingeführt hat, die von vielen als Zwangsrekrutierung kritisiert wird. Nichtsdestotrotz sehen erhebliche Teile der Bevölkerung die SDF auch als die bislang erträglichsten Herrscher — nach dem Assad-Regime, den Rebellen, dem IS und all den Bomben wollen die meisten nur noch Ruhe und Sicherheit.

Um mehr Vertrauen bei der arabischen Bevölkerung zu gewinnen, paktierte die SDF mit lokalen arabischen Stämmen und betonte stets, der Bevölkerung die Verantwortung übergeben zu wollen. Die International Crisis Group und lokale AktivistInnen kritisieren jedoch, die Zivilen Räte, die die SDF zur Verwaltung eroberter Ortschaften einsetzte, seien nur Feigenblätter – das letzte Wort liege bei der YPG. Und nicht nur Selbstbestimmung versprach man den Menschen. Als die SDF in der Bevölkerung von Raqqa um Unterstützung warb, versprach sie, dass es keine Rückkehr der Diktatur geben werde. Was wird aus diesen Versprechen, wenn die Verhandlungen mit dem Regime dereinst weiter vorangeschritten sein werden?

Derweil fabuliert Erdoğan immer wieder davon, dass das Land bei Raqqa oder Manbij „den Arabern gehört“. Ein türkischer Einmarsch in Manbij schien im Frühjahr dieses Jahres realistisch. Dann gelang es den USA, Zeit zu gewinnen, indem sie die YPG zum Abzug bewegte. Nur der zur SDF gehörende arabisch dominierte Militärrat von Manbij blieb zurück. Aber auch das ist nur ein Provisorium. Zur Instabilität tragen auch mysteriöse Mordanschläge auf Vertreter der Selbstverwaltung bei. So erschossen Unbekannte im März Omar Alloush – der kurdische Politiker war eine Schlüsselfigur der nordsyrischen Selbstverwaltung und hatte sich vor allem als kluger Vermittler zwischen der arabischen Mehrheitsbevölkerung und der SDF in Orten wie Raqqa, Tabqa, Tall Abyad oder Manbij hervorgetan. Beobachter vermuten, dass das verantwortliche Todesschwadron von der Türkei unterstützt wird, um die Verhältnisse vor Ort zu destabilisieren.

Nach Manbij ist das Leben zurückgekehrt. Heute leben mehr Menschen in der Stadt als vor dem Krieg.

Knackpunkt Wiederaufbau

Und das Problem in diesen Orten ist nicht nur politisch: Hinzu kommt die gewaltige Aufgabe des Wiederaufbaus. Keine Stabilität ohne Sicherheit und ökonomische Perspektiven für die Menschen. Bezahlen tut dafür bislang vor allem Washington, neuerdings auch Saudi-Arabien. Doch das Geld reicht bei weitem nicht aus und sowohl internationale Organisationen als auch westliche Regierungen schrecken aus Furcht vor der Türkei davor zurück, die Selbstverwaltung zu unterstützen. Und im Falle eines Deals? Könnten auch das Assad-Regime und Russland diese Aufgabe nicht schultern. Damaskus fehlt das Geld und Russland will vor allem endlich für die Unterstützung der letzten Jahre ausbezahlt werden.

Schon vor dem Krieg wurde die Region Raqqa vom Regime als lästige Peripherie begriffen und mehr oder weniger sich selbst überlassen. Beim Wiederaufbau Syriens würde Raqqa sich wohl erneut auf der Prioritätenliste ganz weit unten wiederfinden — das aber könnte Extremisten wiedererstarken und Stabilität in noch weitere Ferne rücken lassen. Fraglich ist auch, wie die USA wohl zu alledem ständen. Ursprünglich hatten sie verkündet, so lange wie nötig in Nordsyrien präsent zu bleiben und die Selbstverwaltung zu unterstützen – um ein Wiedererstarken des IS zu verhindern und dem wachsenden iranischen Einfluss etwas entgegenzusetzen. Ende März jedoch erklärte Donald Trump plötzlich, so schnell wie möglich amerikanische Truppen aus Syrien abziehen zu wollen — dann ruderte das Pentagon wieder zurück. Mit einem dermaßen chaotischen Weißen Haus herrscht in Rovaja freilich große Sorge, dass die Selbstverwaltung doch fallengelassen wird. Auch deshalb will die Selbstverwaltung ein Abkommen erreichen, dass den Status Nordsyriens sichert.


»Wenn der Polizeistaat wiederkehrt, werde ich Nordsyrien verlassen«

Wie der Deal letztlich aussehen könnte, ist unklar. PartnerInnen von Adopt a Revolution fürchten unter anderem, dass er die Sicherheitsdienste des Regimes und damit den Terror der Assad-Diktatur in die Region zurückbringen könnten. Wir sprachen mit Abdulrahim, der in Nordsyrien ein von Adopt a Revolution unterstütztes Zivile Zentrum leitet:

Wie siehst du die Chancen für einen Deal zwischen dem Assad-Regime und der Selbstverwaltung?

Es wird definitiv eine Abmachung geben. Man muss sich vergegenwärtigen, dass ja nie eine aktive Feindschaft zwischen Selbstverwaltung und Regime bestand — das macht die Situation weniger kompliziert als andernorts. Zudem gab es ja schon zuvor Kooperationen zwischen beiden Seiten, etwa bei der Bekämpfung des IS in Hassakeh oder auch im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen hier in Nordsyrien. Nichtsdestotrotz wird die Aushandlung einer solchen Lösung wohl noch Jahre dauern.

Bist du optimistisch, was einen solchen Deal betrifft?

Ich zweifle an den Kapazitäten der Selbstverwaltung, wirklich nachhaltig mehr Rechte für die nordsyrische Bevölkerung – und seien es nur die Kurden – zu verhandeln. Die PYD [die hegemoniale kurdische Partei in Nordsyrien] hat etwa längst eine ganz andere Richtung eingeschlagen. Sie haben keine nationale Vision mehr, sondern eine Parteienvision. Ich fürchte, dass sie vor allem Privilegien für sich selbst, aber nicht für alle Kurdinnen und Kurden aushandeln, also dass sie vor allem mehr Macht für sich herausschlagen. Ein offizieller Parteinstatus etwa und das Recht bestimmte Gemeinden zu regieren.

Wie sieht die Bevölkerung diese Verhandlungen?

Ein Teil ist sehr ängstlich und befürchtet, dass der Polizeistaat zurückkehrt. Junge Männer haben Angst davor, zum zweijährigen syrischen Militärdienst gezwungen zu werden. Das könnte dazu führen, dass viele von ihnen das Land verlassen. Andererseits ist ziemlich viel auf lokaler Ebene passiert. Viele Menschen — Araber wie Kurden — haben mit den Behörden individuelle Versöhnungsabkommen geschlossen. Das bedeutet, du gehst zu den Behörden des Regimes und binnen zwei Stunden säubern sie deine Akte. Das geht aber nur bei einzelnen simpleren Vergehen. Die Sache mit dem Militärdienst lässt sich zum Beispiel nicht lösen. Insbesondere die Unterstützer des Regimes — diese findet man primär im öffentlichen Dienstleistungssektor — blicken natürlich recht optimistisch in die Zukunft. Das heisst nicht, dass es nicht auch unter ihnen Menschen gibt, die die Rückkehr des Polizeistaates und den Militärdienst ihrer Söhne fürchten. Aber sie sehen das als Preis, der nun mal dafür zu zahlen ist, dass die staatlichen Dienstleistungen im vollen Umfang zurückkehren.

Was wäre, wenn die SDF bestehen bliebe und in die syrische Armee integriert wird, wie einige Politiker in Nordsyrien das vorgeschlagen haben? Würde das einen Unterschied machen?

Das ist möglich. Für mich persönlich macht es jedoch keinen Unterschied. Ich werde von den Sicherheitsdiensten Assads gesucht. Mein Fall lässt sich auch nicht mit den erwähnten individuellen Versöhnungsabkommen lösen. Wenn das Regime und seine Geheimdienste zurückkehren, werde ich Nordsyrien also verlassen müssen.

Hofft noch jemand darauf, dass die USA einen wie auch immer gearteten Unterschied machen könnten?

Es gibt noch immer eine sehr positive öffentliche Meinung über die Amerikaner und eine eher negative Wahrnehmung Russlands. Die Leute sind jedoch definitiv davon überzeugt, dass sie einen starke Staat an ihrer Seite brauchen. Wie Damaskus eben, das ohne Russland nichts ist.

Das heißt allerdings nicht, dass man sich Illusionen macht. Ich habe etwa vollstes Vertrauen, dass sich die USA letztlich einzig um ihre eigenen Interessen kümmern werden. Das letztendliche Abkommen in Sachen Nordsyriens wird eines zwischen Russland, der Türkei und den USA sein. Die Türkei wird kein kurdisches Gebilde an der eigenen Grenze dulden — und die USA werden Ankara diesen Wunsch erfüllen. Ich fürchte, dass man Nordsyrien somit immer weiter die die Arme Russlands und des Regimes treiben wird.

Glaubst du an eine Föderalisierung, wie sie sich manch einer erhofft?

Die Präsenz von SDF und Selbstverwaltung im Norden ist ein Fakt. Und mit dem muss Russland eben umgehen. Aber es ist die Erhaltung des Assad-Regimes, die oberste Priorität für sie hat — ob man nun mit ein paar Köpfe austauscht oder nicht. Ich glaube nicht an eine wirkliche Föderalisierung des syrischen Staates. Das Höchste der Gefühle wäre wohl eine auf lokaler Ebene stark begrenzte Selbstverwaltung.