Anfang Oktober veröffentlichte Syrien die Ergebnisse der indirekten Wahl für das erste Parlament seit dem Sturz von Baschar al-Assad. Rund 6.000 Mitglieder regionaler Wahlgremien wählten Kandidat*innen aus vorab genehmigten Listen. Auf diese Weise wurden fast zwei Drittel der Sitze im neuen Parlament vergeben. Das Ergebnis hat viele enttäuscht, die auf Repräsentation gehofft hatten: Nur vier Prozent der 119 gewählten Abgeordneten sind Frauen und auch die Vertretung religiöser und ethnischer Minderheiten ist gering.
Nun richtet sich der Blick auf die verbleibenden 70 Sitze, die Übergangspräsident Ahmed Al-Sharaa bis Ende des Monats direkt besetzen wird. Viele hoffen, dass er dabei gezielt Frauen und bisher unterrepräsentierte Gruppen berücksichtigt. Weitere 18 Sitze bleiben vorerst vakant, bis der Wahlvorgang in Suweida, Hassaka, Raqqa und Ayn al-Arab/ Kobanê nachgeholt werden kann.
Die indirekte Wahl hat landesweit für heftige Diskussionen gesorgt. Viele Syrer*innen stellen ihre Legitimität grundsätzlich infrage. Unser Partner Mohammed Shakerdy vom zivilen Zentrum Atareb beschreibt die Stimmung so:
Ein Teil der Menschen hält die Wahlen in dieser Phase für notwendig, ein anderer boykottierte sie wegen fehlender Legitimität und tatsächlicher Beteiligung des Volkes. Eine dritte Gruppe nutzte die Gelegenheit, um über demokratische Wahlpraktiken und politische Aufklärung für die Zukunft zu sprechen.
Das Zivile Zentrum Atareb, das Shakerdy leitet, gehörte zu jenen, die diese Gelegenheit ergriffen. Das Team startete eine öffentliche Informationskampagne in der Kleinstadt. Mit Plakataktionen und Workshops klärten sie über demokratische Wahlen auf – eine notwendige Bildungsarbeit in einem Land, das über Jahrzehnte keinerlei demokratische Erfahrung sammeln konnte. Shakerdy betont, dass der Wahlprozess trotz aller Kritik erste zarte Anzeichen politischer Beteiligung erkennen lasse:
Trotz aller negativen Aspekte bei der Bildung des aktuellen Parlaments stellt dieser Prozess für viele Menschen einen Versuch dar, Syrer*innen tatsächlich zu vertreten. Insbesondere jene aus Regionen, die lange unter Armut, politischer Marginalisierung und fehlender Beteiligung gelitten haben. Sie sehen darin eine Möglichkeit, sich ernsthaft an politischen Prozessen zu beteiligen und am Aufbau eines Staates mitzuwirken, der sich nach 14 Jahren Krieg neu aufstellt.
Ein Beispiel dafür ist Hassan Qadour aus Talbiseh. Während der Revolution leitete er ein Medienzentrum, das die Gewalt durch das Assad-Regime und das Leben unter Belagerung dokumentierte, bis er 2018 nach Idlib vertrieben wurde. Bei den Parlamentswahlen war Qadour selbst Mitglied eines Wahlgremiums und gab zum ersten Mal in seinem Leben seine Stimme bei einer Wahl ab.
Es herrschte Freude unter den Mitgliedern der Wahlgremien. Wir haben uns entschieden, aktiv an diesem Prozess teilzunehmen, unseren Kandidaten aufgestellt und versucht, ihn zu unterstützen.
In Qadours Wahlkreis stand ein Sitz zur Verfügung, über den rund 50 Wahlberechtigte entschieden. Nur Mitglieder der Wahlgremien durften sich selbst nominieren und abstimmen. Die Zusammensetzung dieser Gremien war daher entscheidend für das Ergebnis.
Bei uns vor Ort war das Problem, dass sich Kandidierende in die Zusammensetzung der Wahlgremien eingemischt haben, indem sie Namen einbrachten, die nur sie unterstützten. Ein Kandidat hatte schon Monate vorher daran gearbeitet, bestimmte Personen in das Gremium aufnehmen zu lassen. Das Ganze lief auf eine Art von Korruption hinaus. Das hat uns sehr geärgert.
Weiter berichtet er, dass der Einfluss konservativer Kräfte wie der Muslimbruderschaft vor und während der Wahl stark gewesen sei. Auch Expert*innen bestätigen, dass die Bildung der Unterausschüsse auf Bezirksebene, die die Wahlgremien bestimmten, erhebliche Manipulationsrisiken barg: Sie verfügten über unverhältnismäßig viel Macht bei der Auswahl der Wahlberechtigten.
Zwar wurden die Unterausschüsse in Absprache mit lokalen Communities eingerichtet, doch der Prozess blieb weitgehend intransparent. In vielen Orten wich die anfängliche Euphorie schnell der Ernüchterung, als sich zeigte, dass die Auswahl der Gremien gezielt beeinflusst worden war. Auch der von Qadour unterstützte Kandidat konnte sich am Ende nicht durchsetzen.
Wir haben vielleicht auch verloren, weil uns die Erfahrung fehlt. Für die meisten war das die erste Wahl überhaupt. Wir haben keine Routine in diesen politischen Spielen. Wir hatten gehofft, dass es einen fairen Wettbewerb geben würde. Aber andere Gruppen haben Strukturen, die wir nicht haben. Jetzt liegt es an uns, bis zur nächsten Wahl eigene Strukturen aufzubauen.
Die Menschen in Syrien haben ein Recht auf freie und faire Wahlen. Dieses Ziel geben sie nicht auf. Qadours Hoffnung auf einen fairen Wettbewerb ist mehr als nur eine politische Forderung. Sie ist Ausdruck eines tiefen Wunsches nach Veränderung, den viele im Land teilen. Immer mehr Syrer*innen glauben daran, dass die politische Zukunft ihres Landes von Ideen, Programmen und Überzeugungen geprägt werden kann und nicht länger von Angst und Manipulation.
Die syrische Zivilgesellschaft hat den Wahlprozess aufmerksam begleitet – kritisch, aber auch gestaltend. Trotz aller Hürden wächst ihr Einfluss. Der Weg zu echter Teilhabe ist noch lang, doch viele bleiben engagiert und überzeugt davon, dass die vorhandenen Spielräume genutzt werden müssen, um Demokratie Wirklichkeit werden zu lassen.
