Der Arzt Mohamad Katoub arbeitet für die Hilfsorganisation Syrian-American Medical Society und stammt aus Ost-Ghouta. Er ging 2014 ins Exil, von wo er unter anderem mit UN und Rotem Halbmond die Evakuierung medizinischer Notfälle aus dem vom Assad-Regime belagerten Kriegsgebiet koordiniert.
Wie beschreiben Ihre Kontakte die Lage in Ost-Ghouta?
Die Belagerung von Ost-Ghouta hat sich seit Frühjahr 2017 stetig verschärft. Seit einigen Wochen eskalieren nun die Luftangriffen und der Artilleriebeschuss. Die Menschen stecken in den Luftschutzbunkern und Kellern fest. Einige von diesen Schutzräumen haben nicht mal Sanitäranlagen oder Wasser. Allein gestern und vorgestern wurden mehr als 200 Menschen getötet. 12 medizinische Einrichtungen wurden getroffen, vier mussten den Betrieb einstelle, eines davon ist völlig zerstört und wird den Betrieb nicht wieder aufnehmen können. Die verbliebenen Einrichtungen sind überlaufen. Neun Ärzte oder Pfleger wurden seit Anfang des Jahres getötet.
Wie viele Ärzte gibt es noch und wie steht es um den Nachschub medizinischer Güter?
In ganz Ost-Ghouta gibt es noch rund 107 Ärzte – das sind natürlich viel zu wenig für annähernd 400.000 Menschen und entsprechend überlaufen sind die Lazarette. Doch das ist nicht das Problem. Sie alle wären qualifiziert genug, um mit der Situation umzugehen – doch die äußeren Umstände lassen es nicht zu. Es gibt keine Möglichkeit, Krebspatienten zu therapieren oder aufwendigere Operationen durchzuführen. Seitdem die Schmuggelrouten geschlossen sind, verlieren wir Patienten durch eigentlich sehr einfach behandelbare Krankheiten. Wir haben Patienten verloren, die Medikamente benötigten, die fast jede Apotheke in Damaskus vorrätig gehabt hätte. Doch in Ghouta gibt es diese Medikamente wegen der Belagerung nicht. Deswegen drängen wir die WHO schon lange, Nachschub mithilfe der UN-Hilfskonvois zu liefern.
Sie erwähnten die Angriffe Russlands und des Assad-Regimes auf medizinische Einrichtungen. Apologeten und Unterstützer dieser beiden Kriegsparteien machen sich über die häufigen Meldungen über solche Angriffe in der Regel lustig. So viele Einrichtungen könne es gar nicht geben, sagen sie und erklären solche Nachrichten zu Kriegspropaganda.
Es geht um medizinische Einrichtungen, nicht notwendigerweise um Krankenhäuser. Und von denen gibt es viele, weil wir verschiedene medizinische Dienstleistungen dezentral verteilen, um das Risiko zu reduzieren, dass ein einziger verheerender Angriff gleich den Großteil unserer Instrumente zerstört oder einen Großteil unserer Ärzte tötet. Ebenso bedeutet das weniger Patienten pro Einrichtung, was auch ihr Risiko reduziert, bei einem Angriff zu sterben. Hinzu kommt: So viele Einrichtungen sind es eigentlich gar nicht. Wir haben 40 medizinische Einrichtungen in Ost-Ghouta. Eine davon betreibt zum Beispiel nur Entbindungen, eine andere nur Pädiatrie, eine andere nur Basisgesundheitsversorgung. Für 400.000 Einwohner ist das also nicht viel. Es geht, wie gesagt, nicht um ganze Krankenhäuser.
Warum greift das Regime sie an?
Weil niemand ohne medizinische Hilfe leben kann. Du willst nicht an einem Ort leben, an dem dein Kind im Falle einer Verletzung keine Hilfe erhalten kann, Du willst nicht an einem Ort leben, an dem es keine Impfungen erhalten kann. Das Regime und seine Alliierten wissen das und deshalb greifen sie medizinische Einrichtungen an. So schwächt es das Durchhaltevermögen der Menschen.
Ende Dezember kam es nach zähem Ringen endlich zur Evakuierung zumindest einiger medizinischer Notfälle aus Ost-Ghouta – im Gegenzug ließen Rebellen Kriegsgefangene frei. Diese Evakuierten machten jedoch nur einen sehr sehr kleinen Anteil derer aus, die dringende Behandlungen benötigen, die in Ghouta nicht mehr möglich sind. Wie hat sich diese Angelegenheit, in der Sie sehr aktiv sind, entwickelt?
Es gibt keinerlei Verhandlungen mehr in dieser Sache. Zumindest nicht über offizielle Kanäle. Tag für Tag fragt die UN zwar weiter nach Informationen in dieser Sache, doch so ist es schon immer gewesen. Sie erbitten Informationen und Informationen und Informationen und nichts geschieht. Ich habe also kaum noch Hoffnung. Und auch die paar Menschen, die im Dezember evakuiert worden waren, werden in Damaskus wie Geiseln behandelt. Seit Februar, seit dieser neuen Angriffswelle, ist das Thema tot. „Warum verbringst du so viel Zeit damit und machst den Leuten Hoffnung, lässt sie Unterlagen und Anträge ausfüllen?“, haben mich unsere lokalen Mitarbeiter gefragt. Sie haben alle keine Hoffnung mehr. Zuletzt standen auf der Liste 1.036 Personen.
Noch im Herbst berichtete UNICEF, dass 12 Prozent der Kinder in Ost-Ghouta wegen der Belagerung an akuter Mangelernährung litten. Seit dem Start der heftigen Angriffe vor einigen Wochen hört man davon kaum noch etwas. Wie steht es um die Versorgungslage der Bevölkerung?
Die wenigen Hilfslieferungen der UN haben das Problem nicht lösen können, denn noch immer kriegen viele Kinder nicht genug zu essen weil ihre Familien sich das nicht leisten können. Es bleibt ein ernstes Problem.
Ost-Ghouta war von Russland zu einer der vier Deeskalationszonen erklärt worden. Warum haben diese Zonen nicht gehalten, was sie versprachen?
Ob nun Deeskalation, Waffenruhe oder Waffenstillstand. All diese Abkommen haben stets nur für einen begrenzten Zeitraum gehalten. Doch sie haben es den Menschen vor Ort zumindest erlaubt, einen Moment durchzuatmen, bevor die Angriffe wieder begannen. Das Regime wird nicht akzeptieren, dass in diesem Land Menschen leben, die sich nicht unter seiner Kontrolle befinden. Das Regime will die Macht, ganz gleich wie viele Leben das kostet. Und deshalb begeht es Kriegsverbrechen – um die Menschen unter Druck zu setzen, damit sie aufgeben. Und die internationalen Akteure schweigen dazu. Das ein oder andere Statement bedeutet gar nichts – das schützt kein einziges Menschenleben und niemand wird das Regime stoppen.
Adopt a Revolution unterstützt sieben zivile Projekte im belagerten und beschossenen Ost-Ghouta. Helfen Sie mit Ihrer Spende mit, die Arbeit dieser Projekte zu ermöglichen!
Vielen Dank!