Die belagerten Vororte von Damaskus werden seit Monaten ausgehungert. UNICEF meldete nun, dass der Grad von Mangelernährung bei den Kindern in Ost-Ghouta der höchste jemals in Syrien gemessene ist: 11,9% der Kinder litten akut. Daran kann sich nichts ändern, solange nicht Hilfslieferungen in alle von den Rebellen besetzten Gebiete zugelassen werden, unabhängig von der Autorisierung durch das Regime. Die Verlängerung einer diesbezüglichen UN-Resolution wird Anfang Januar im UN-Sicherheitsrat verhandelt – Beobachter fürchten aber, dass Russland auch in diesem Fall stellvertretend für Assad ein Veto einlegen wird.
Auch während des zweitägigen von Russland vermittelten Waffenstillstandes am 28. und 29. November kam es in den belagerten Vororten von Damaskus weiterhin zu Artilleriebeschuss und Luftangriffen. Betroffen waren die Orte Hamouriya, Jobar, Jisreen, Harasta, Erbin, Douma und Hosh al-Dawahira. Drei Menschen starben, darunter zwei Kinder. Russland war zuvor selbst von dem Waffenstillstand zurückgetreten. Die Begründung lieferte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow: „Die Angriffe gegen Terroristen gehen weiter, man kann keinen Waffenstillstand mit dem IS vereinbaren.“ Dabei ist allen Beobachtern (und auch Russland) klar: Der IS hat noch nie eine Rolle in Ost-Ghouta gespielt. Zwar gibt es dort diverse andere islamistische Gruppen, mit diesen jedoch arbeiten Russland und das syrische Regime teilweise seit Jahren zusammen.
Ein Überblick:
Jaysh al-Islam:
Jaysh al-Islam, eine islamistische, der saudischen Regierung nahestehende Miliz, ist die mit Abstand mächtigste Gruppierung in Ost-Ghouta und kontrolliert Douma, die größte Stadt der Region. Bis zur Schließung des als „Millionen-Checkpoints“ bekannten Korridors bei Wafideen im März 2017 konnten sich korrupte syrische Armeegeneräle und Jaysh al-Islam gemeinsam mit ihren Mittelsmännern an der Versorgung des Gebiets mit dem Lebensnotwendigsten aus Damaskus bereichern. Jaysh al-Islam kontrolliert weiterhin die gesamte Geldzufuhr in die Enklave, ist an den Genfer Friedensgesprächen beteiligt und trat als erste Gruppe in Ost-Ghouta dem Deeskalationszonenabkommen bei. Angesichts dieser Beziehungen zu Russland und Teilen des Regimes ist es kein Wunder, dass ein Hilfskonvoi des Syrischen Roten Kreuzes und der UN für das von Jaysh al-Islam kontrollierte Nashabiyeh zugelassen wurde. Dieser lieferte am Dienstag Hilfsgüter für 7.200 Menschen – viel zu wenig dafür, dass in ganz Ost-Ghouta 400.000 Menschen leben und nur sehr selten Konvois genehmigt werden. Im Gegenzug wird erwartet, dass Jaysh al-Islam Gefangene der Syrischen Armee (SAA) freilassen wird. Während andere Rebellenfaktionen nach der Schließung von Schmuggelrouten wie den Tunneln und dem Wafideen-Checkpoint gegen Anfang des Jahres versuchten, Regime-Truppen zurückzudrängen, agierte Jaysh al-Islam zurückhaltend – dies hängt wohl auch damit zusammen, dass die Gruppe inzwischen eher daran interessiert ist, ihre auch ökonomische Vormachtstellung in der Region zu zementieren, so Youssef Sadaki, Fellow am Orient Research Center in Washington D.C. und Experte für die ökonomische und militärische Situation in der Enklave. Jaysh al-Islam übe eine „Belagerung in der Belagerung“ aus.
Faylaq al-Rahman:
Faylaq al-Rahman, ein mit der FSA zusammenhängender islamistischer Kampfverband, ist die zweitstärkste Gruppe in Ost-Ghouta. Den Muslimbrüder nahestehend erhielt die Gruppe vor allem Unterstützung aus Katar. Die Beziehungen Faylaq al-Rahmans zu Russland und dem Regime sind deutlich schlechter als diejenigen Jaysh al-Islams, berichtet Sadaki: Verhandlungsverstöße der Miliz stießen immer wieder auf taube Ohren. Das könnte daran liegen, dass die Gruppe keine unmittelbare Bedrohung für Assad darstellt: Nicht zuletzt, weil seine Kämpfer meist aus lokalen, lose zusammenhängenden FSA-Einheiten stammen und nach zermürbenden und letztlich erfolglosen Kämpfen gegen Jaysh al-Islam im Frühsommer ausgelaugt sind, verfügt Faylaq al-Rahman gerade nicht über die notwendige Schlagkraft. Ebenso wie Jaysh al-Islam ist die al-Rahman-Miliz an den Genfer Friedensgesprächen beteiligt, nachdem es der von Jaysh al-Islam, Russland und Assad ausgehandelten Einrichtung einer Deeskalationszone in Ost-Ghouta zustimmte.
Hai’at Tahrir al-Sham (HTS):
HTS, vormals bekannt als Jabhat al-Nusra, wurde als syrischer Arm von Al-Qaeda gegründet, hat diese Verbindung aber mittlerweile gekappt. Nominell gehörte sie nie zu den größten Gruppen in Ost-Ghouta, verfügt nur über eine geringe Anzahl von Kämpfern, ist aber trotzdem einflussreich. Das hängt damit zusammen, dass die Gruppe hauptsächlich im sogenannten „Mittelsektor“ präsent ist, eine Ansammlung von Städten und Dörfern im Südwesten Ghoutas, darunter Erbin und Jobar. HTS ist daher strategisch gut positioniert: Jobar liegt direkt am wichtigen M5-Highway, der vertikal durch Syrien führt und seine industriellen Zentren, wie Damaskus und Homs, verbindet. Außerdem bildet dieser westliche Ausläufer des belagerten Gebiets für Rebellen einen Puffer zwischen Damaskus und der Enklave. Die Allianz Iran-Russland-Assad hofft, durch die Einnahme von Jobar endlich ins Rebellengebiet vordringen zu können. Jobar ist damit besonders von den Luftangriffen während der vermeintlichen Waffenruhe betroffen.
Ahrar al-Sham:
Ahrar al-Sham ist eine weitere islamistische Gruppe. 2015 wurde ein Großteil von Ahrar al-Shams Kämpfern von Faylaq al-Rhaman aufgekauft, nur etwa 100 Hardliner blieben zurück. Diese kleine Gruppe kontrolliert das Gebiet um Harasta, dem aufgrund einer Militärbasis strategisch eine große Bedeutung zukommt. Zur Zeit liefert sich die Gruppe heftige Gefechte um Harasta, das Regime und seine Verbündeten flogen auch während der Waffenruhe massiv Angriffe auf zivile Ziele in Harasta.
Die Sochi-Allianz hat es dieser Tage besonders auf die beiden letztgenannten Gruppen abgesehen. Luftangriffe, die in erster Linie zivile Opfer haben, konzentrieren sich dieser Tage auf Jobar und Harasta. Unter dem Vorwand der Bekämpfung des IS geht es dabei nicht um Terrorismusbekämpfung, sondern um erster Linie um Machtpolitik: Während der IS in Ost-Ghouta nie präsent war, handelt Russland mit Jaysh al-Islam, die die bekannte Menschenrechtsanwältin Razan Zeitouneh und drei ihrer Mitstreiter vor fast vier Jahren kidnappten und immer wieder Angriffe auf zivilgesellschaftliche Initiativen verüben, lukrative Deals aus. Das zeigt, dass unter der Machtpolitik des Assad-Regimes und der aufständischen Milizen wie üblich am meisten die Zivilbevölkerung zu leiden hat.
Eva Tepest
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